Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Spielfeld statt Schlachtfeld
Heute wäre Fritz Walter 100 Jahre geworden – Wie der Fußballstar im Zweiten Weltkrieg dem Tod von der Schippe sprang
eit Tagen hört Fritz Walter schon den Geschützdonner der Ostfront. Von Nacht zu Nacht wird er lauter. Dem Unteroffizier und seinen Kameraden von der Luftwaffen-Mannschaft „Rote Jäger“ist längst klar: Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis ihr provisorischer Fliegerhorst im niederschlesischen Schweidnitz von den Russen eingenommen wird. Hunderte Wehrmacht-Soldaten fluten von der Ostfront zurück an den Baracken des Jagdgeschwaders 52 vorbei. Sie berichten von unmenschlichen Erlebnissen und wollen nur noch nach Hause. Und was machen die „Roten Jäger“? Sie ziehen noch einmal ihre knallroten Trikots an. Zum Fußballspielen. Gegen eine andere Soldaten-Mannschaft. Um das Spielfeld versammeln sich ein paar Hundert Zuschauer. Was bringt diese Männer in Hörweite der Front dazu, solch
ein
Wahnsinnsspiel auszutragen und anzuschauen? Etwa 20 Minuten sind gespielt, da taucht am Himmel ein sowjetischer Jagdbomber auf. Sportler und Publikum bleiben zunächst gelassen. Der Anblick ist seit Wochen nichts Besonderes. Das Spiel läuft weiter.
Dann setzt der Bomber zum Tiefflug an. Jetzt rennen die Menschen um ihr Leben. Die Spieler werfen sich auf den Boden. Für Fritz Walter ist es wahrlich nicht der erste Luftangriff, den er miterlebt. Aber diesmal ist alles anders: Bislang konnte er jedes Mal in einen Luftschutzraum fliehen. Oder in einen Wald. Oder zumindest in eines der Ein-MannErdlöcher auf den Rollfeldern seiner Fliegerhorste hüpfen. Aber jetzt? Jetzt ist es aus, denkt Walter. Er liegt mitten auf dem Spielfeld. Ohne Helm. In einem Baumwollhemd und kurzen Hosen. Schutzlos. Er sieht, wie das Flugzeug in etwa 300 Metern Höhe eine Bombe fallen lässt. Er drückt sein Gesicht auf den Rasen. Verschränkt seine Hände über dem Kopf. Presst die Augen zusammen. 24 Jahre alt ist er erst. Muss er heute sterben? Im Kopf laufen seine bisherigen 24 Länderspiele vor ihm ab. Sein Debüt für den 1. FC Kaiserslautern. Und sein erstes Tor beim Straßenfußball vor dem Gasthaus seiner Eltern.
Jeder deutsche Fußballfan weiß, wie diese lebensgefährliche Situation endete: Fritz Walter überlebte. Und es war nicht das erste Mal, dass er während des zweiten Weltkrieges dem Tod von der Schippe sprang. Neun Jahre später wurde er als Kapitän der deutschen Nationalmannschaft Weltmeister. Er wurde zur Symbolfigur für das „Wunder von Bern“und für das „Wir-sind-wiederwer“-Gefühl der Deutschen. Als DFBEhrenspielführer avancierte er zum fleißigen, heimattreuen Vorbild für die Wirtschaftswunder-Republik.
Am heutigen 31. Oktober wäre Fritz Walter 100 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass wird der 3:2-Überraschungssieg im WM-Endspiel gegen die favorisierten Ungarn wieder rauf und runter erzählt. Auch Walters Nibelungentreue zu seinem FCK wird gefeiert. Trotz lukrativer Angebote spielte er sein Leben lang nur für diesen Verein, so geht die Legende. Was aber die wenigsten schreiben und wissen: Wie sind die Helden von Bern durch den Weltkrieg gekommen? Im Fall von Fritz Walter lautet die Antwort: Nur durch viel, viel Glück und ebenso skurrile wie unglaubliche Rettungsaktionen durch Sepp Herberger. Der damalige Reichstrainer unternahm alles, um seine besten Fußballer von der Front fernzuhalten. Der begnadete Netzwerker und Charmeur startete seine geheime „Operation Soldatenklau“. Er nutzte alle möglichen Kontakte, um mithilfe wohlgesonnener Fußballfans in Uniform seine Kicker in Reserveeinheiten versetzen zu lassen, im Lazarett zu verstecken. Oder als Schauspieler in einem Propagandafilm unterzubringen. Hauptsache weg von der Front. Herberger trickste, manipulierte und log, dass sich die Balken bogen. Klarer Fall von aktiver Wehrmachtzersetzung.
Ganz besonders bemühte er sich um seinen erklärten „Lieblingsspieler“: Fritz Walter. Letztlich mit Erfolg. Aber was Herberger nicht verhindern konnte: dass der Kaiserslauterner zeitweise nach Frankreich und Italien versetzt wurde. Dort spielte er unter anderem für die TSG Diedenhofen und die TSG Saargemünd – so viel zur Legende, Walter habe nur für einen einzigen Klub gespielt. In Italien fing er sich die Malaria ein. Danach wurde er immer wieder von Fieber-Schüben heimgesucht. Auch das war ein Grund dafür, dass er Hitze nicht mochte und lieber bei Kälte und Regen spielte. Der Fußball-Fachbegriff „Fritz-WalterWetter“, er hat seine Wurzeln im Krieg. Nur weiß das kaum einer, weil Walter zwar viele Interviews gab, aber kaum über seine Zeit in Uniform sprach.
Vielleicht aus schlechtem Gewissen? Während andere, jüngere Männer ihr Leben in Hitlers sinnlosem Krieg verloren, musste Walter nie an der Front kämpfen. Herberger sei Dank. Ihm gelang es sogar, aus dem Obergefreiten des Heeres einen Unteroffizier der Luftwaffe zu machen. Der einzige Grund für dieses Versetzungswunder: Walter sollte für die Luftwaffen-Elf „Rote Jäger“kicken. Diese tourte durch das Reich, um in 2 x 45 Minuten die Menschen auf andere Gedanken zu bringen und ihre Moral zu heben. Spielfeld statt Schlachtfeld.
Andere hatten weniger Glück. Insgesamt starben im Zweiten Weltkrieg etwa 40 Nationalspieler. Einer von ihnen war August Klingler aus Daxlanden bei Karlsruhe. Der Stürmer war in manchen Belangen sogar talentierter als Fritz Walter. Bei einem inoffiziellen Testspiel der Reichself gegen eine Bayern-Auswahl stürmte Klingler 1939 in Schweinfurt Seite an Seite mit Walter. Nach dem 6:5-Sieg der Herberger-Elf feierte die Presse einen Mann: August Klingler. Er schoss drei Tore, Walter traf nur einmal. „Bester Mann war der Karlsruher Klingler“, schrieb der Kicker. „Er scheut keine Arbeit, er holt sich die Bälle bei der eigenen Verteidigung, öffnet mit weiten Vorlagen das Spiel, reißt seine Kameraden mit vor, dribbelt elegant und geschickt, schießt schnell und scharf, erwischt alle Kopfbälle.“
Für Fritz Walter hatte der Reporter nur einen mitleidigen Rüffel aus der Schublade „brotlose Kunst“übrig: „Walter ist ein großer Ballkünstler, er muss aber obacht geben, daß er nicht zu verspielt wird.“
Aber während Walter nach dem Krieg zur Legende wurde, ist Klingler heute total vergessen. Sepp Herberger hatte zwar auch für ihn
schon die Versetzung zu den „Roten Jägern“eingefädelt. Aber diesen Plan machten stramme Nazis im Oberkommando der Wehrmacht zunichte. Weil ihnen Herbergers „Wanderzirkus“schon länger ein Dorn im Auge war, ignorierten sie Klinglers Versetzung und schickten ihn an die Ostfront. Dort geriet er 1944 in die Kesselschlacht von Kischinew, die er nicht überlebte.
Fritz Walter dagegen hatte selbst nach Kriegsende noch einen großen Schutzengel über sich. Auf dem Weg in die russische Gefangenschaft wurde er in einem Zwischenlager an der rumänisch-ukrainischen Grenze von einem russischen Kommandanten erkannt. Dieser war Fußballfan und sorgte dafür, dass Walter nicht wie alle anderen nach Sibirien weiter musste, sondern noch 1945 nach Kaiserslautern zurückkehrte. Schon damals also hatte der Fußball eine unfassbare Macht. Es war dieses, nun ja, Spiel, das Walters Leben gerettet hat. „Eine gnädige Hand“, sagte er später,
„hat mich gerettet.“
Wie auch 1945 in Schweidnitz, als der russische Tiefflieger sein Wahnsinns-Spiel jäh unterbrach. Die Bombe landete neben dem Spielfeld, dann musste der Pilot wegen Flak-Feuer abdrehen. Das Spiel wurde mit einem Schiedsrichterball fortgesetzt.
Alle Mitglieder der Weltmeister-Elf von 1954 haben im Krieg ähnliche wahnwitzige Folgen von Nationalismus, Totalitarismus und Kriegstreiberei am eigenen Leib verspürt. Sie pendelten zwischen Krieg und Frieden, zwischen Leben und Tod. Gesprochen haben sie darüber fast nie.
Eine Frage hätten sie auch nicht beantworten können: Wenn der Krieg nicht gewesen wäre, wie viele der 40 gefallenen Nationalspieler hätten 1954 im WMFinale gespielt? Und welche der Berner Helden wären nicht dabei gewesen?
Als Fritz Walter am 17. Juni 2002 starb, war er Träger des Bundesverdienstkreuzes, und das FCK-Stadion trug bereits seinen Namen.
Von seinem ehemaligen Reichself-Kollegen August Klingler wurden nie sterbliche Überreste gefunden.