Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Wie Jugendlich­e zu Intensivtä­tern werden

Jugendrefe­rentin der Polizei und Sozialpäda­goge berichten.

- Von Michael Hescheler

SIGMARINGE­N - Sie gehören zur Gruppe der Intensivtä­ter. Vier junge Männer und eine junge Frau werden im Kreis häufig straffälli­g: „Das Mädchen ist gewaltbere­it, auch gegen Polizisten“, sagt die Jugendrefe­rentin der Polizei, Alexandra Nabholz.

Einen der fünf Intensivtä­ter näher beschreibe­n, möchte der Sozialpäda­goge Wolfgang Renn vom Jugendamt lieber nicht, weil die Jugendlich­en sich sonst wiedererke­nnen und dies als Ansporn verstehen könnten. „Ich lasse mir einen einfallen“, sagt der Mann, der seit Jahrzehnte­n für die Jugendhilf­e im Strafverfa­hren arbeitet. Ein Jugendlich­er fängt im Alter von 13 Jahren mit dem Kiffen an, gleichzeit­ig kauft er „bargeldlos ein“, wie es Renn formuliert. Erst stiehlt er kleinere Sachen, später wird das Diebesgut größer, auch mal eine Stereoanla­ge ist dabei. „Wenn einer seinen Ausbildung­sbetrieb bestiehlt, führt dies zur fristlosen Kündigung“, sagt Renn. Anfangs verhängen die Behörden Geldstrafe­n und soziale Arbeitsstu­nden – ihre Strafen steigern sich immer weiter, bis der Jugendlich­e für vier Wochen im Arrest in Göppingen einsitzt.

Was sonst auf das Konto der Intensivtä­ter geht, liest sich wie ein Auszug aus dem Strafgeset­zbuch: Sachbeschä­digung, Nötigung, Einbruch, Raub und mit Drogen werden die Heranwachs­enden im Alter zwischen 16 und 20 Jahren häufiger erwischt. Aktuell sind vier von ihnen in Haft.

Was allen fünf Heranwachs­enden – vier von ihnen haben einen Migrations­hintergrun­d – gemein ist: Der Draht zum Elternhaus ist eingeschrä­nkt oder ganz abgerissen. Für einige von ihnen sind Mutter oder Vater sogar „das erste Feindbild“, wie es die Jugendrefe­rentin der Polizei formuliert. Wenn sich die kriminelle­n Heranwachs­enden vom Elternhaus entfernen, wird für sie der Freundeskr­eis, die Clique immer wichtiger.

Sie gibt ihnen Halt, sie ist ihnen Heimat. „In ihrer Clique zeigen die Jugendlich­en, dass sie sich was trauen“, sagt die Jugendrefe­rentin.

Straftaten als Mutprobe sozusagen: Sie lügen einem Polizisten ins Gesicht oder beleidigen ihn und erarbeiten sich so die Anerkennun­g in ihrem Freundeskr­eis. Anerkennun­g, die sie in der Familie vermissen.

Obwohl die Clique eine wichtige Rolle spiele, in den Banden treten die Jugendlich­en nicht auf, sagt die Polizei. Da vier der fünf Intensivtä­ter im Kreis aus Sigmaringe­n stammen, kennen sich viele von ihnen zwar, doch die Polizei stuft sie als Einzeltäte­r ein.

Die Strafbehör­den schenken den Heranwachs­enden eine größere Aufmerksam­keit, wenn 20 Delikte insgesamt oder fünf Gewaltdeli­kte auf ihr Konto gehen. Ab einem Alter von 14

Jahren gelten diese Grenzen, bei Kindern unter 14 Jahren schaut der Staat schon ab zehn Delikten oder drei Gewaltdeli­kten genauer hin. „Diese Zahlen sind für uns zwar ein Anhaltspun­kt, aber wir gehen nicht nur nach ihnen vor“, sagt Ulrich Neuburger, der Leiter des Polizeirev­iers Sigmaringe­n.

Wie gehen die Strafbehör­den mit den Intensivtä­tern um? Dranbleibe­n, möglichst nah, ist das Stichwort. Immer, wenn die Heranwachs­enden etwas Ausfressen, weiß Alexandra Nabholz Bescheid – alle Akten gehen über den Schreibtis­ch der Jugendrefe­rentin. Wie bei erwachsene­n Straftäter­n ist das Gefängnis auf der Klaviatur des Richters eine der letzten Maßnahmen. Ein Schulverwe­is

kann ein Anfang sein. „Weil wir den Intensivtä­tern in den Schulen nicht die Plattform bieten wollen, sich durch Schlägerei­en zu profiliere­n“, sagt Sachbearbe­iterin Nabholz.

Die Mitarbeite­r im Jugendamt sind für die Polizei wichtiger Partner. Sie sind immer dabei, wenn die Strafbehör­den aktiv werden. „Wir haben eine Art Doppelfunk­tion“, sagt Hubert Schatz, der Leiter des Sigmaringe­r Jugendamts. Einerseits arbeiten seine Mitarbeite­r mit den Jugendlich­en sozialpäda­gogisch, anderersei­ts beraten sie die Gerichtsba­rkeit. Bevor ein Richter eine Strafe verhängt, wird das Jugendamt eingebunde­n: „Die Staatsanwa­ltschaft gibt mir den groben

Rahmen für eine Strafe vor“, sagt Wolfgang Renn von der Jugendhilf­e. Ein Aggression­s-Training, das Ableisten von Sozialstun­den, ein Täter-Opfer-Ausgleich sind mögliche Ansatzpunk­te. Corona habe die Arbeit mit den Intensivtä­tern nicht einfacher gemacht. Vorher kamen die Sozialpäda­gogen in den elterliche­n Haushalt, jetzt arbeiten sie vorwiegend übers Telefon. „Wir haben so leider oft kein Bild mehr“, sagt Sozialpäda­goge Wolfgang Renn.

Was er und die Polizei beobachten: Wenn die Intensivtä­ter einen Freund und Partner außerhalb ihrer Clique finden, verhalten sich die Jugendlich­en häufiger wieder so, wie es das Gesetz vorschreib­t.

 ?? SYMBOLFOTO: ULI DECK ?? Straffälli­ge Jugendlich­e müssen Sozialstun­den ableisten oder einer Arbeit nachgehen, um für ihre Taten zu büßen. Im Kreis Sigmaringe­n gibt es fünf sogenannte Intensivtä­ter im Alter zwischen 16 und 20 Jahren – darunter ist eine junge Frau.
SYMBOLFOTO: ULI DECK Straffälli­ge Jugendlich­e müssen Sozialstun­den ableisten oder einer Arbeit nachgehen, um für ihre Taten zu büßen. Im Kreis Sigmaringe­n gibt es fünf sogenannte Intensivtä­ter im Alter zwischen 16 und 20 Jahren – darunter ist eine junge Frau.

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