Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Schwierige Schweigemi­nute

Schüler gedenken in Frankreich getötetem Lehrer – Pädagogen mit Islamismus im Klassenzim­mer überforder­t

- Von Christine Longin

PARIS - „Ihr haltet die Intelligen­z und die Seele der Kinder in euren Händen.“Mit diesem Satz beginnt der Brief an die Lehrerinne­n und Lehrer, den der sozialisti­sche Politiker Jean Jaurès 1888 in der Zeitung „La Dépêche du Midi“veröffentl­ichte. Am Montag wurde dieser Brief in allen Schulen Frankreich­s vorgelesen – in Erinnerung an den enthauptet­en Lehrer Samuel Paty. Die Pädagogen seien für das Vaterland verantwort­lich, mahnte Jaurès und Paty nahm diese Verantwort­ung ernst. Im Bürgerkund­eunterrich­t der achten Klasse zeigte er zum Thema Meinungsfr­eiheit die Mohammed-Karikature­n und wurde dafür von einem 18-jährigen Tschetsche­nen enthauptet. Die grausame Tat ereignete sich am 16. Oktober, dem letzten Tag vor den Herbstferi­en. Erst am Montag mit dem Schulbegin­n bot sich der Anlass, über das Ereignis zu sprechen und des ermordeten Lehrers zu gedenken.

Um elf Uhr hielten alle zwölf Millionen Schüler Frankreich­s eine Schweigemi­nute ab. „Wir werden nicht akzeptiere­n, dass die Schweigemi­nute nicht beachtet wird“, hatte Bildungsmi­nister Jean-Michel Blanquer

im Vorfeld angekündig­t. Nach den Anschlägen auf die Satirezeit­ung „Charlie Hebdo“und den jüdischen Supermarkt Hyper Cacher 2015 waren während des Gedenkens an die Opfer rund 200 Zwischenfä­lle in Schulen gemeldet worden. Schüler redeten oder pfiffen statt zu schweigen, andere begrüßten die Taten.

Vermutlich wurden damals gar nicht alle Entgleisun­gen weitergege­ben. Der ehemalige Schulinspe­ktor Jean-Pierre Obin spricht von einer „Selbstzens­ur“, die in den Schulen herrscht. Den Vorgesetzt­en sei vor allem wichtig, „keine Welle zu machen“, kritisiert­e Obin in seinem Buch „Comment on a laissé penétrér l’islamisme à l’école“(Wie wir den Islamismus in die Schule eindringen ließen). Die Lehrer seien außerdem nicht darauf vorbereite­t, schwierige Themen wie die in Frankreich seit 1905 geltende Trennung zwischen Staat und Religion anzupacken. Nur sechs Prozent hätten dafür eine Fortbildun­g erhalten, bemerkte Obin in mehreren Interviews. Die Pädagogen müssten auch besser auf Konflikte vorbereite­t werden, die sich beispielsw­eise ergeben, wenn die Klasse eine Kathedrale besucht und muslimisch­e Schüler sich dagegen wehren. Auch der Gedenktag für Paty war nach Ansicht der Gewerkscha­ften schlecht vorbereite­t. Ursprüngli­ch

sollten die Schüler erst um zehn Uhr mit dem Unterricht beginnen, damit die Lehrer vorher gemeinsam über den Umgang mit dem heiklen Thema beraten konnten. Doch die zwei Freistunde­n wurden gestrichen. „Die Schule wurde angegriffe­n. Die Gemeinscha­ft der Erziehende­n ist tödlich getroffen, wir können nicht weitermach­en, als sei nichts gewesen“, kritisiert­e die Gewerkscha­ft SNES.

Laut einer Umfrage des Meinungsfo­rschungsin­stituts ViaVoice sind 82 Prozent der Französinn­en und Franzosen der Meinung, dass die Freiheit der Lehre bedroht ist. 30 Prozent halten es aber nicht für „wünschensw­ert“, die MohammedKa­rikaturen zu zeigen. Paty hatte die Zeichnunge­n durchgenom­men, den muslimisch­en Schülern aber freigestel­lt, den Raum zu verlassen. Eine Schülerin, die am Unterricht gar nicht teilgenomm­en hatte, informiert­e daraufhin ihren Vater Brahim C., der in einem Internet-Video die Entlassung des Lehrers forderte. Der Mörder Patys wurde so auf den 47Jährigen aufmerksam. Ein 14-jähriger Schüler, gegen den ein Ermittlung­sverfahren läuft, zeigte ihm für 300 Euro den Lehrer, den er auf dem Nachhausew­eg enthauptet­e.

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FOTO: THOMAS COEX/DPA Die Bildungsmi­nister von Frankreich, stehen für eine Schweigemi­nute für den getöteten Lehrer Paty in einer Schule.

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