Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Rennen um den Impfstoff
Pharma-Konzerne arbeiten fieberhaft an einem Corona-Wirkstoff – mit völlig verschiedenen Herangehensweisen
BERLIN - Die einzig realistische Hoffnung auf ein rasches Ende der Pandemie ruht auf der Verfügbarkeit von Impfungen noch vor Ende des Winters. Mit vier völlig unterschiedlichen Ansätzen nähert sich ein Dutzend Pharma-Hersteller bereits der Marktreife. Aus dem Gesamtbild spricht eine ermutigende Botschaft: In den kommenden Monaten kommt nicht nur ein Impfstoff auf den Markt, sondern es gehen mehrere konkurrierende Verfahren in den Praxiseinsatz. Weder die Last der Produktion für die Gesamtbevölkerung – noch die zu erwartenden Riesengewinne – konzentrieren sich damit bei einem Unternehmen. Stattdessen verteilen sich die Anstrengungen auf verschiedene Konzerne aus Europa, Asien und Amerika.
Impfstoffe basierend auf Boten-Ribonukleinsäure (mRNA)
Durch die Nutzung von mRNA lassen sich Produktionszeiten enorm abkürzen. Der eigentliche Wirkstoff entsteht in körpereigenen Zellen.
Hersteller: Die Firma Biontech aus ● Mainz hofft auf eine Zulassung zum Jahresende, sodass die Impfungen schon im Januar beginnen können. Die Produktion von Millionen von Dosen auf Vorrat läuft bereits. Behörden in Europa haben mit der Prüfung der Studienergebnisse begonnen, in den USA ist der Antrag für die dritte Novemberwoche geplant. Der Konkurrent Moderna aus den USA liegt nicht weit zurück und rechnet bis März 2021 mit dem Masseneinsatz. Bei Curevac aus Tübingen dürfte es noch etwas länger dauern, die Erprobung befindet sich erst in Phase zwei von drei. Doch auch Curevac erwartet eine Verfügbarkeit noch im ersten Halbjahr 2021.
Wirkung: Das Verfahren ist neu ● und revolutionär. Anders als bei klassischen Impfstoffprojekten sind keine Viren mehr im Spiel. Die Wissenschaftler arbeiten hier stattdessen mit reiner Information über das Virus. Sie lassen den eigentlichen Impfstoff in den Körperzellen des Impflings herstellen. Dazu nutzen sie die biochemische Maschinerie der Zellen. Diese wird von Boten-Ribonukleinsäure (mRNA) programmiert. Sie ist vergleichbar mit einem Bauplan, aus dem eine computergesteuerte Maschine ein Werkstück herstellt. Im Kern der Impfung liegt ein Strang mRNA, der ein auffälliges Stück des Coronavirus beschreibt – meist die Spitze der auffälligen Stachel auf seiner Oberseite. Diesen hüllen die Forscher in einen Käfig aus Fetten. Diese Hülle hat eine besondere Eigenschaft: Bestimmte Zellen lassen sie durch die Zellwand ins Innere, wo die mRNA dann freigesetzt wird. Die menschlichen Erbanlagen werden dabei nicht verändert, der Zellkern mit den eigenen Genen bleibt unverändert. Der Impfstoff leiht sich bloß die Protein-Fabrik der Zelle aus, um täuschend echte Virus-Teile herzustellen. Sie liest die künstliche hergestellte mRNA aus und setzt die virusähnlichen Moleküle in den Blutstrom frei. Auf diese Stachel-Stücke reagiert nun das Immunsystem fast genauso heftig wie auf das echte Virus. Es entstehen Antikörper, der Impfling entwickelt Abwehrkräfte.
Vorteile: Es lassen sich große Mengen ● des Impfstoffs in kurzer Zeit produzieren. Es ist hier nicht nötig, echte Viren anzuzüchten, alle Bestandteile werden gentechnisch hergestellt. Weil keine Viren in den Körper gelangen, gibt es theoretisch auch keine oder kaum Nebenwirkungen.
Nachteile: Die Fetthülle und die ● mRNA sind nicht sonderlich stabil, die Substanz muss immer gut gekühlt sein. Außerdem gab es nie eine große Impfkampagne mit einem mRNA-Impfstoff – die Tests beschränkten sich in den vergangenen zehn Jahren auf wenige Hundert Individuen. Auch wenn in der Theorie nichts passieren kann, sind die praktischen Auswirkungen der Anwendung auf große Gruppen von Menschen nicht erprobt.
Vektor-Impfstoffe
Wissenschaftler verwenden hier Viren, um eine Immunantwort gegen Sars-CoV-2 auszulösen – allerdings nicht das Coronavirus selbst, sondern harmlose Trägerviren.
Hersteller: Der bekannteste Kandidat ● aus dieser Klasse stammt von der Universität Oxford und dem britischen Pharmakonzern Astra-Zeneca. Hier läuft bereits die dritte und letzte Phase der Tests. Anfang 2021 sollen geimpfte Testpersonen absichtlich dem Corona-Virus ausgesetzt werden, um die Wirksamkeit der Immunisierung zu bestätigen. Er könnte dann in den ersten Monaten des Jahres seine Zulassung erhalten und gespritzt werden. Zugleich ist eine Notfallzulassung für Risikogruppen schon vor Weihnachten im Gespräch. In fünf Fabriken werden derzeit schon Hunderte von Millionen Dosen vorproduziert. Der chinesische Hersteller CanSino
Biologics impft bereits seit vergangenen Juni Angehörige der Volksbefreiungsarmee im Rahmen einer militärischen Sonderzulassung mit einem Vektor-Impfstoff. Er wurde zusammen mit dem Beijing Institute of Biotechnology entwickelt. Exakte Zahlen zu dem Experiment sind bisher Staatsgeheimnis. Auch das russische Produkt namens Sputnik 5 ist ein Vektor-Impfstoff. Es hat auf politischen Druck zwar bereits eine Zulassung, die Tests laufen jedoch noch. Der Impfstoff des deutschen Wettbewerbers IDT Biologika in Zusammenarbeit mit mehreren Unis
kommt dagegen erst Ende 2021 auf den Markt.
Wirkung: Die Vektor-Impfstoffe ● ähneln ein wenig den mRNA-Impfstoffen. In beiden Fällen werden Bruchstücke des Coronavirus erst in den Zellen der geimpften Person hergestellt. Doch das Transportgefäß für die Blaupausen ist ein anderes: ein gezähmtes Virus. Das lateinische Wort „Vector“bedeutet „Träger“oder „Passagier“. Es spielt hier darauf an, dass ein anderes Virus die Erbinformation von Stücken des Coronavirus in menschliche Zellen hineinträgt. Diese Viren selbst lösen keine Krankheit aus, alarmieren aber zusätzlich das Immunsystem. Es springt dabei auch auf die Bruchstücke der Coronaviren an.
Vorteile: Die Impfstoffe lassen sich ● sicher und schnell entwickeln. Die Anwendung der Vektor-Viren am Menschen wird zudem bereits seit Jahrzehnten erprobt. Die Viren lassen sich in Bioreaktoren kostengünstig vermehren. Sie müssen außerdem nicht so gründlich tiefgekühlt werden wie mRNA-Medikamente.
Nachteile: Weil nach der Impfung ● eben doch ein komplettes Virus im Körper herumschwirrt, reagiert das Immunsystem des Impflings in einigen Fällen mit Entzündungen und anderen deutlichen Reaktionen. Die
Zahl der Nebenwirkungen ist also vermutlich höher als beim mRNAVerfahren. Inaktive Viren als Impfung
Hier tritt der Bösewicht, gegen den die Impfung am Ende helfen soll, selbst in Erscheinung. Sars-CoV-2 wird allerdings so abgeschwächt oder getötet, dass es keine echte Infektion hervorruft.
Hersteller: Der chinesische Hersteller ● Sinopharm liegt mit seinem Wirkstoff weit vorn. Er befindet sich bereits im Praxiseinsatz: China impft damit bereits seit Juli medizinisches Personal und den Zoll. Inzwischen sind auch Mitarbeiter von staatlichen Großunternehmen hinzugekommen, die viel in Risikogebiete reisen. Laut Mitteilung der Behörden haben sich alle Teilnehmer freiwillig für das Programm gemeldet. Insgesamt will China noch in diesem Jahr über 600 Millionen Impfdosen herstellen. Der indische Anbieter Bharat Biotech will seinen Wirkstoff Covaxin bis Sommer 2021 auf den Markt bringen. Wirkung: In der Spritze sind echte ● Corona-Erreger, die das Immunsystem als Feind erkennt und mit Bildung von Antikörpern bekämpft. Weil die Viren jedoch entscheidend geschwächt sind, kommt es nicht zur Infektion. Vorteile: Das Verfahren ist grundsätzlich ● schon seit 200 Jahren erprobt. Viele Pharmafirmen haben die nötige Ausrüstung, um solche Impfstoffe herzustellen.
Nachteile: Die Anzucht der Viren ● braucht Zeit und große Produktionseinrichtungen. Protein-basierte Impfstoffe
Einzelne Virus-Bruchstücke reichen in Kombination mit einem Verstärker, um das Immunsystem vor Corona zu warnen. Hersteller: Novavax aus den USA ● strebt eine Zulassung in der ersten Jahreshälfte 2021 an. Das Unternehmen traut sich zu, jährlich zwei Millionen Dosen herzustellen. Auch Sanofi (Frankreich) zusammen mit GSK (Großbritannien), Clover Biopharmaceuticals (China) und Vaxine (Australien) testen bereits Protein-Impfstoffe und erwarten Zulassungen im Jahr 2021.
Wirkung: Einzelne Virus-Bruchstücke ● werden vorproduziert und direkt gespritzt. Ein Virus besteht nur aus Eiweißbausteinen, also Proteinen. Novavax verwendet Zellen von Motten, um verschiedene Varianten des Stachels der Corona-Erreger herzustellen. Diese binden die Wissenschaftler zu einem Paket zusammen und mischen einen Wirkverstärker dazu. Ohne diesen Verstärker würde die Immunantwort nur schwach ausfallen. Vorteile: Aufbewahrung ist bei ● normaler Kühlschranktemperatur möglich. Der Wirkverstärker führt zu einer starken Immunreaktion.
Nachteile: Der Wirkverstärker ● kann aber auch nachteilige Impfreaktionen hervorrufen.