Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Ein strahlender Zufall der Medizingeschichte
Vor 125 Jahren entdeckte Wilhelm Conrad Röntgen in Würzburg die nach ihm benannten Strahlen – sie waren tödlich, doch revolutionierten die Medizin
Daniel Staffen-Quandt und Angelika Resenhoeft
WÜRZBURG (epd/dpa) - Einer der größten Meilensteine der modernen Medizin ist dem Zufall zu verdanken: Als Wilhelm Conrad Röntgen im Herbst 1895 wie so oft bis spät in die Nacht im Labor des Physikalischen Instituts der Universität Würzburg mit Kathodenstrahlen experimentierte, fingen ein paar Brösel Bariumplatincyanür auf dem unaufgeräumten Schreibtisch an zu leuchten. Das Glimmen hörte auch nicht auf, als er die Röhre mit Papier, Pappe und Holz verdeckte: Die Strahlen hatten die Eigenschaft, Materie zu durchdringen. Die Entdeckung am 8. November vor 125 Jahren machte den Forscher weltberühmt und revolutionierte Physik und Medizin.
„Was in den Wochen nach dieser Entdeckung passierte, charakterisiert Röntgen ziemlich gut“, sagt Roland Weigand, der Beauftragte für die Röntgen-Gedächtnisstätte in Würzburg. Offenbar verließ der Forscher danach kaum noch sein Labor, so sehr bannte ihn die Entdeckung der unbekannten Strahlen, die er deshalb X-Strahlen nannte. „Er ließ sich das Essen dorthin bringen, sogar ein Bett soll er im Labor aufgestellt haben – und das, obwohl er als Leiter des Instituts gerade mal einen Stock höher mit seiner Frau Bertha gewohnt hat“, sagt Weigand. Doch selbst diese kurze Wegstrecke schien Röntgen damals zu weit.
Ohne seine Entdeckung wäre die heutige moderne Medizin kaum denkbar. Röntgenstrahlen sind extrem kurzwellige, energiereiche elektromagnetische Strahlen, die viele Materialien durchdringen und damit durchleuchten können. Auf einem Röntgenbild sind Knochen gut zu erkennen, Weichteile dagegen nicht. Die Entdeckung vor genau 125 Jahren führte außerdem zu einem gänzlich neuen Zweig der Medizin, der Radiologie.
Die Anwendung betrifft aber nicht nur die Medizin, wie die bekannten Röntgenbilder bei Knochenbrüchen, Zahnarztbehandlungen, der Untersuchung mittels Computertomographie oder auch bei der Strahlentherapie gegen Tumore. Auch in der Technik lassen sich mit den Strahlen Werkstoffe prüfen, Seefracht kann unkompliziert durchleuchtet und geprüft werden und im Labor wird damit die Struktur von Kristallen analysiert. Röntgenteleskope
im Weltraum enthüllen derweil energiereiche, kosmische Prozesse wie etwa bei Schwarzen Löchern. Ein weiteres Anwendungsgebiet: Bei der Bekämpfung von Viren spielen moderne Röntgenoptiken eine große Rolle. Mit hochintensiven Röntgenstrahlen lassen sich die Strukturen von kleinen Molekülen, Eiweißen, Proteinen oder eben von Viren ausmessen und darstellen. Das wiederum hilft, passgenaue Medikamente oder Therapieverfahren zu entwickeln.
Viele der ersten Anwender haben durch die starke Strahlung der Geräte in der Anfangszeit jedoch schwere Schäden davongetragen – sie wussten nicht um die Gefahr der Strahlung für Gewebe und Erbsubstanz. Ein Team um Gerrit Kemerink von der Abteilung für Radiologie und Nuklearmedizin des Maastricht University Medical Center schätzt, dass die Dosis für eine Untersuchung des Beckenknochens seither etwa um das 400-Fache zurückgegangen ist. Hunderte von Medizinern und Forschern starben – diesem Blutzoll stehen allerdings wohl Millionen gerettete Leben gegenüber.
Als Röntgen mit damals 50 Jahren die X-Strahlen entdeckte, war er bereits ein in Fachkreisen geschätzter Wissenschaftler. Er hatte eine akademische Karriere hingelegt, an die 30 Jahre zuvor keiner geglaubt hatte. 1863 wurde der Remscheider im holländischen Utrecht ohne Abitur von der Schule geworfen – weil er für die Karikatur eines Lehrers verantwortlich gemacht wurde, die gar nicht von ihm stammte. Offiziell durfte
Röntgen in Utrecht deswegen nicht studieren und war nur als Gasthörer eingeschrieben. Später ging Röntgen nach Zürich an die Polytechnische Hochschule, dort war Studieren ohne Abi möglich.
In der Schweiz lernte er nicht nur seine spätere Frau kennen, sondern auch August Kundt, bei dem er Physik studierte. Schließlich promovierte Röntgen in Zürich und wurde Kundts Assistent. Es folgten viele weitere Stationen an mehreren Hochschulen, ehe Röntgen 1888 einen Ruf als Professor nach Würzburg annahm. „Diese Entscheidung zeigt, dass ihm die Experimentalphysik über alles ging“, sagt Roland Weigand. Denn Röntgen hätte allen Grund gehabt, Würzburg zu meiden. Als er 1870 erstmals in die Stadt kam, durfte er dort trotz des Doktortitels nicht habilitieren – wegen seines fehlenden Abiturs.
„Würzburg hatte damals das bestausgestattete physikalische Institut in Deutschland, vielleicht sogar in Europa“, sagt Weigand. Daher zögerte Röntgen nicht lange und zog an den Main. Und dort forschte und forschte er, was die Zeit hergab. Zeitgenossen bezeichneten ihn als Kauz, als Sozialphobiker, aber auch als Genie, akribischen Forscher und Wissenschaftler; vermutlich war Röntgen alles ein bisschen. Zuvorderst aber war er uneitel. Als er im Januar 1896 nach zahllosen Experimenten erstmals die X-Strahlen öffentlich präsentierte, begann er den Vortrag anscheinend mit den Worten: „Durch Zufall entdeckte ich diese Strahlen.“
Nach dem Vortrag wurde von Zuhörern der Vorschlag gemacht, die von Röntgen entdeckten Strahlen auch nach ihm zu benennen – dafür fand sich eine große Mehrheit, entgegen Röntgens ausdrücklichem Wunsch. Er meldete für die Strahlen und deren Nutzung auch kein Patent an, ihm ging es nicht um Ruhm oder Geld, sondern um die Wissenschaft. Später beanspruchten andere Forscher die Entdeckung für sich. Das ging so weit, dass ihm manche den ersten Nobelpreis für Physik im Jahr 1901 am liebsten wieder aberkennen wollten. Der Neid mancher Kollegen focht den Wissenschaftler jedoch nicht an.
Röntgen selbst belastete die Entdeckung der X-Strahlen aber aus einem anderen Grund. Auch wenn er testamentarisch verfügt hatte, dass alle Aufzeichnungen außer den veröffentlichten Aufsätzen nach seinem Tod vernichtet werden sollten: Es ist überliefert, wie sehr er sich daran störte, als Experimentalphysiker „nur“auf diese eine Entdeckung reduziert zu werden, erzählt Weigand. „Er hat 70 Aufsätze geschrieben, nur drei davon befassen sich mit den XStrahlen.“Hinzu kommt, dass es nicht die Entdeckung der Strahlen an sich war, die die Menschen begeisterte, sondern weil ihre Nutzung die Medizin revolutionierte.
All diese Umstände mögen ein Grund dafür sein, dass Würzburg seinen wohl bekanntesten Physiker lange Zeit eher stiefmütterlich behandelte. Die Gedächtnisstätte in Röntgens einstigem Labor, das in den heutigen Räumen der Hochschule Würzburg-Schweinfurt liegt, wurde erst 1985 eröffnet – 100 Jahre nach Röntgens bahnbrechender Entdeckung. Zum 125. Jahrestag – und Röntgens 175. Geburtstag - hatten Stadt, Uni und Hochschule das „Röntgenjahr 2020“ausgerufen. Die Corona-Pandemie machte dem Jubiläum allerdings einen Strich durch die Rechnung. Die meisten Veranstaltungen wurden deswegen ersatzlos abgesagt.
Ende September stand für eine Woche das sogenannte „Röntgenzelt“auf dem Würzburger Marktplatz, dort konnten sich interessierte Bürger über die bekannte Erfindung informieren. Am Entdeckungs-Jahrestag selbst, dem 8. November, war in der Neubaukirche der Uni ein Staatsempfang geplant – dieser wird nicht stattfinden können, ein Nachholtermin steht nicht fest. Was fest steht: Die Gedächtnisstätte, die Röntgens Originallabor beherbergt, soll um einen Raum erweitert werden. Der Trägerverein hält sich derzeit noch bedeckt, was dort gezeigt werden soll. Doch dem Zufall wird dort wohl nichts überlassen.