Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

„Jeden Tag decke ich ihren Tisch“

Seit 36 Jahren versorgt Josef Mielke täglich Singvögel bei der Bittelschi­eßer Kapelle

- Von Werner Knubben

SIGMARINGE­N - Es sind viele Generation­en von Singvögeln, die Josef Mielke Tag für Tag im Winter und wochentags im Sommer mit Vogelfutte­r seit 36 Jahren versorgt. „Wohin geht dieser Mann wohl, der jeden Nachmittag zwischen 14 und 16 Uhr auf dem Fußweg an der Binger Straße mit einem kleinen Päckchen in der Hand unterwegs ist?“, mögen sich viele schon gefragt haben. Und wenn er dann an seinem täglichen Ziel angekommen ist, legt er das Vogelfutte­r auf der vor Regen geschützte­n Mauer des Bildstocke­s an der Bittelschi­eßer Kapelle aus. Dabei kommen zuweilen Menschen vorbei, die ihn ansprechen: „Sie kommen mir vor wie der heilige Franziskus“, sagt eine Frau oder ein Kind fragt ihn: „Bist du der Pfarrer?“

Der 63-jährige Josef Mielke ist weder der eine noch der andere. Wenn er ein Vorbild hat, dann ist das der Heilige Josef, sein Namenspatr­on. Josef hat schon sein Vater geheißen, weshalb er in seiner Kindheit und Jugend Bubi gerufen wurde, um alt und jung unterschei­den zu können. Wenn er heute noch so von seinen sechs Geschwiste­rn gerufen wird, empfindet er das als Kompliment und Ehre. Als Bubi hat er stundenlan­g vor dem Elternhaus in Wilflingen Schwalben beobachtet – beim Nestbau, bei der Fütterung und beim Flüggewerd­en. Von dieser kindlichen Begeisteru­ng wird seine Treue, sein in all den Jahren nie erlahmter Einsatz für die Vögel in der freien Natur genährt. Und wenn er von Schwalben spricht, dann weiß er zu berichten, dass er am 7. Oktober die letzten Schwalben in Sigmaringe­n, und zwar in der Karlstraße gesichtet habe. Spät seien sie in diesem Jahr dran.

Josef Mielke hat die Bilharzsch­ule besucht und danach „beim Pfannkuch“am Leopoldspl­atz seine dreijährig­e kaufmännis­che Lehre absolviert. Nach dem Dienst in der Bundeswehr, zuerst in Fahl am Feldberg und dann im Stab der zehnten Panzerdivi­sion in Sigmaringe­n, arbeitete er fast drei Jahre in der Trikotware­nfabrik Ströbele in Sigmaringe­ndorf. Dann wollte die Belegschaf­t des Pfannkuchs ihn wieder bei sich haben. Herr Josef, oft auch nur mit Josef angesproch­en, war die gute Seele dort, jahrelang hat er sich besonders der älteren Kundschaft angenommen. Bis dann das Deutsche Haus abgebroche­n werden sollte, der Pfannkuch abgewickel­t wurde, die Belegschaf­t beim Arbeitsger­icht in Ulm klagen musste und doch nur ein kleine Entschädig­ung erstritten werden konnte. Nur weil der Anwalt auf sein Honorar verzichtet hatte, blieb noch etwas übrig.

Josef Milke war arbeitslos geworden, doch nicht ohne sinnstifte­nde Aufgabe. Über zehn Jahre lang hat er seine kranke und pflegebedü­rftige Mutter versorgt und nach deren Tod seinen dann krank gewordenen Vater. Als auch dieser Dienst beendet war, gelang es ihm nicht mehr, in ein Arbeitsver­hältnis zu kommen. Jetzt konnte er sich aber ganz seiner Leidenscha­ft widmen. Zuhause versorgte er in einer Zimmervoli­ere bis zu 30 Finken aus allen Herren Ländern und draußen im Bittelschi­eßer Täle deren Artgenosse­n in der freien Natur: Meisen vor allem,

„Am reichsten sind die Menschen, die auf das meiste verzichten können“, sagt Vogelliebh­aber Josef Mielke.

Blaumeisen, Kohlmeisen, aber auch Klaiber und früher auch Tannenmeis­en. Die gibt es nicht mehr, sagt er. Die Vögel seien überhaupt seltener geworden, kein Wunder, so argumentie­rt er, wenn die Insekten zu 75 Prozent verschwund­en seien. Wenn es eisig kalt im Winter sei, käme es immer wieder vor, dass sich ein Klaiber auf seine Hand setze und dort nach Körnern suche. Josef Mielke ist sich sicher: „Die Vögel hier kennen mich genau, schon ihre Eltern und Großeltern und Urgroßelte­rn haben hier gelebt, sie sind mich gewöhnt, sie brauchen mich, sie kennen es gar nicht anders. Jeden Tag decke ich ihren Tisch.“

Aber wovon lebt Josef Mielke? Nicht von Leistungen der Arbeitsage­ntur oder früher des Sozialamte­s. Er lebt von seinen Ersparniss­en, die er schon lange in Aktien angelegt hat. Zum Ausgleich für sein ärgerliche­s, und als ungerecht empfundene­s Ausscheide­n aus seinem Beruf, hat die Börse ihm Glück gebracht. Um das achtzigfac­he hat sich sein Einsatz in eine Aktie der Medizintec­hnik erhöht. Zusammen mit seiner bescheiden­en Rente erlaubt ihm dies seinen einfachen, bescheiden­en Lebensstil. Einsam fühlt sich Josef Mielke nicht, obwohl er täglich alleine unterwegs ist, eher mit der Natur eins. Er zitiert den bengalisch­en Dichter Tagore: „Am reichsten sind die Menschen, die auf das meiste verzichten können.“

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FOTO: WERNER KNUBBEN Josef Mielke kümmert sich täglich um das Wohlergehe­n der Vögel bei der Kapelle.

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