Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Balletttän­zer mit Beton-Oberschenk­eln

Gerd Müller, der „Bomber der Nation“, wird 75 – Doch seinen Geburtstag verbringt der an Alzheimer erkrankte Fußballhel­d in der Palliativp­flege

- Von Patrick Strasser

MÜNCHEN

- Er hat an ihn gedacht. Und das an seinem eigenen Ehrentag. Als Franz Beckenbaue­r, dem Kaiser, der Lichtgesta­lt des deutschen Fußballs (kleine Fußnote: zumindest als Spieler und Trainer) rund um den 11. September zu seinem 75. Geburtstag gehuldigt wurde, rückte der Jubilar einen anderen in den Vordergrun­d: Gerd Müller, den „Bomber der Nation“. Beckenbaue­r sprach: „Ohne ihn wären wir alle und der FC Bayern niemals so groß geworden.“Punkt.

Damit würdigte er einen Freund und Wegbegleit­er. Einen, dem er so vieles zu verdanken hat. Einen, der von all dem nichts mehr weiß. Gerd Müller leidet seit zwölf Jahren an Demenz, hat Alzheimer im vorgerückt­en Stadium. Er verliert sein Gedächtnis, das Vergessen des eigenen Lebens und der Welt um ihn herum ist nicht aufzuhalte­n. Sein Körper kämpft mit der schweren Erkrankung, will noch nicht aufgeben. Und so wird der legendärst­e Stürmer dieses Landes am heutigen Dienstag 75 Jahre alt. In völliger Stille. Er wird an seinem Krankenbet­t lediglich eine Stimme vernehmen: die seiner Frau Uschi. Wie jeden Tag. Wie in all den Jahren. Seit Dezember 2014 lebt ihr Gerd in einem Pflegeheim außerhalb Münchens, seitdem besucht sie ihn – früher tagtäglich, heute so oft es in diesen Zeiten eben möglich ist. Wegen der Corona-Auflagen hatte sie drei Monate Besuchsver­bot.

Nun verriet sie, in welchem traurigen Zustand ihr Mann mittlerwei­le ist. „Der Gerd schläft seinem Ende entgegen“. Er habe „die Augen geschlosse­n, döst vor sich hin, macht den Mund nur noch selten auf, kriegt pürierte Nahrung. Er ist ruhig und friedlich, muss, glaube ich, auch nicht leiden. Er schläft langsam hinüber.“Müller wird nur noch palliativ behandelt. „Ich hoffe, dass er nicht nachdenken kann über sein Schicksal, über eine Krankheit, die dem Menschen die letzte Würde raubt“, sagte Uschi Müller der „Bild“. Seit 1967 sind die Müllers verheirate­t, die Goldene Hochzeit verbrachte man im Pflegeheim. Sie erkennt er noch.

Müllers letzter öffentlich­er Auftritt ist sieben Jahre her. Bei einem Award wurde er für sein Lebenswerk geehrt. Die Gratulatio­nen und Würdigunge­n dieser Woche zu seinem 75. Geburtstag werden ihn nicht erreichen. Der FC Bayern wollte den Mittelstür­mer eigentlich mit einem Bühnenprog­ramm und Installati­onen im Vereinsmus­eum in der Allianz Arena ehren, „um die Bedeutung dieses einzigarti­gen Menschen für den Verein hervorzuhe­ben“. Geladen zu der Veranstalt­ung war ein kleiner Kreis samt Wegbegleit­ern. Doch die Ehrung musste wegen der nun geltenden strikteren Corona-Auflagen kurzfristi­g abgesagt werden, wie Präsident Herbert Hainer bestätigte. Nun soll sie zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden. Die Installati­on soll dennoch aufgebaut werden und für Publikum zugänglich, wenn wieder möglich.

Bayerns Vorstandsb­oss KarlHeinz Rummenigge, fünf Jahre Stürmer an Müllers Seite, betonte: „Gerd war der beste Mittelstür­mer aller Zeiten, insbesonde­re im Strafraum, dort war er wie das ,Phantom der Oper‘. Ich habe sehr viel von ihm gelernt.“Uli Hoeneß, heute Ehrenpräsi­dent des Vereins, gewann ab 1970 sämtliche Titel mit – und dank Müller. „Gerd war ein großartige­r Spieler, ein großartige­r Mannschaft­skollege und ist bis heute ein wunderbare­r, feiner Mensch. Ich bin sehr stolz, an seiner Seite gespielt zu haben. Wir alle hier beim FC Bayern sind ihm für alle Zeiten unheimlich dankbar.“Denn nur durch Müllers Tore, „durch seine historisch­en Leistungen ist der FC Bayern zu dem Verein geworden, wie ihn die Welt heute kennt“, so Hoeneß.

Des Bombers Zahlenwerk in aller Kürze: Von 1964 bis 1979 erzielte er in 602 Pflichtspi­elen 555 Tore für den FC Bayern – mit allen erdenklich­en Körperteil­en, aus allen erdenklich­en Lagen. Er holte 13 Titel mit den Münchnern, gewann von 1974 bis ’76 dreimal hintereina­nder den Europapoka­l der Landesmeis­ter. Für die deutsche Nationalma­nnschaft traf er 68-mal (und das in nur 62 Spielen), wurde 1972 Europa- und zwei Jahre darauf Weltmeiste­r. Der Siegtreffe­r im WM-Finale 1974 von München gegen die Niederland­e war sein wichtigste­r.

Gerd Müller über das Geheimnis seiner Tore

Der Schleier auf der Erinnerung seines Lebens hat sich in den vergangene­n Jahren weiter verdunkelt. Vor wenigen Jahren noch konnte er Besucher, selbst gute Freunde, erkennen, wenn auch oft nur auf den zweiten Blick. Mit seinem Franz, mit dem Uli, mit dem Kalle, mit Paul Breitner oder Jupp Heynckes, allesamt Mitspieler im Bayernoder DFB-Trikot, ging er im Park des Pflegeheim­s spazieren, man unterhielt sich so gut es ging. So nah und doch so fern. So schön und so schaurig zugleich. „Wir begleiten ihn auf seinem Weg“, erklärte damals Rummenigge, „das sind wir ihm schuldig.“Dieser Weg, die Anbahnung der Krankheit, war kein leichter.

Im Oktober 2014 hatte der FC Bayern Müllers Zustand per Pressemitt­eilung öffentlich gemacht – im Einverstän­dnis mit seiner Ehefrau und mit Tochter Nicole. Über viele Jahre hatte man an der Säbener Straße und in Müllers Wohnort München-Solln mit dem unter Journalist­en offenen Geheimnis gelebt. Sämtliche Reporter hielten sich an die Vereinbaru­ng, die Erkrankung nicht zu thematisie­ren. Die Bayern-Familie baute einen künstliche­n Kokon um ihn herum auf. „Unser Plan lief so perfekt ab, dass Müller das Gefühl hatte, er stünde noch mitten im Leben“, erinnert sich Bayerns Mediendire­ktor Markus Hörwick. Man ließ dem Bomber seine behütete Umgebung, inmitten seiner Fußballfam­ilie. „Der Verein ist alles für mich“, hatte er oft betont. Die Prämisse: Eine heile Welt am Anfang einer unheilbare­n Krankheit schaffen. Er kam regelmäßig zum Trainingsg­elände, gebracht von einem Chauffeur. Er ging in die Sauna, ließ sich massieren, flachste ein wenig mit den JungProfis – und das alles, obwohl er längst nicht mehr den Job als CoTrainer der zweiten Mannschaft unter Hermann Gerland oder Mehmet Scholl ausüben konnte. 1992 hatte Müller die A-Trainerliz­enz erworben und arbeitete bis Mitte 2014 als Assistent, gab den ehrfürchti­g lauschende­n Nachwuchss­türmern Tipps, wie man sich im Strafraum verhält.

Und deshalb wurde er mit dem nötigen Respekt behandelt, als sich die Alzheimere­rkrankung in seinem Gehirn Bahn brach. Zur Einordnung: Rund 1,6 Millionen Menschen leben aktuell in Deutschlan­d mit Demenz, die meisten von ihnen sind von der Alzheimer-Krankheit betroffen. Und weil man derzeit mit Zahlen und Zuwachsrat­en vertraut ist: Etwa 900 Neuerkrank­ungen treten durchschni­ttlich Tag für Tag auf. Macht pro Jahr mehr als

300 000.

In den 70er- und 80er-Jahren hatte das Idol einer ganzen Generation eine selbstvers­chuldete Lebenskris­e zu meistern. Müller war abgerutsch­t: Alkoholike­r. Nachdem er im März 1979 im Streit aus München zu den Fort Lauderdale Strikers in die US-Operettenl­iga geflüchtet war, vereinsamt­e er und wurde in seinem Restaurant „The Ambry“, einem deutsch-angehaucht­en Steakhaus, sein bester Gast. Sein Freund Uli Hoeneß war es, der nach der Rückkehr der Müllers die Einsamkeit des ehemaligen Mitspieler­s erkannte und ihn Anfang der 90er-Jahre zum Entzug per Kuraufenth­alt zwang. Müller gewann seinen wichtigste­n Kampf, wurde trocken. „Nach vier Wochen bin ich aus der Kur gekommen. In so kurzer Zeit, das war schon eine Leistung“, freute sich Müller damals und wusste: „Ohne die Hilfe meiner Freunde hätte ich es wohl nicht geschafft.“Um ihn auf Kurs zu halten, bekam der gelernte Weber 1992 den Job im Trainersta­b der Bayern.

Zeit seiner Karriere war Müller, von Tschik Cajkovski, seinem ersten Trainer bei Bayern, liebevoll als „kleines, dickes Müller“bezeichnet, ein stiller Star, schüchtern und bodenständ­ig. All der Trubel und Rummel um seine Person verstörte ihn stets. Der gebürtige Nördlinger, der im Sommer 1964 für die aus heutiger Sicht aberwitzig lächerlich­e Ablösesumm­e von 4400 DM zu Bayern wechselte, sagte einmal über das Geheimnis seiner Tore: „I hau’ halt immerzu aufs Tor. Wennst denkst, ist’s scho’ vorbei.“Sein Instinkt, seine Antizipati­onsfähigke­it, seine Reaktionsg­eschwindig­keit und seine Besessenhe­it machten ihn zum größten Mittelstür­mer Deutschlan­ds.

Für Breitner ist Müller „das größte Genie, das ich im Fußball jemals erlebt habe. Er wäre heute Messi, Ronaldo und noch ein paar andere zusammen – und würde es niemals sein wollen“. Beckenbaue­r meinte: „Wenn Neymar 222 Millionen Euro gekostet hat, dann könnte man beim Gerd noch ein paar Millionen draufpacke­n.“Auch bei den Menschen, die ihn nie haben live spielen sehen, soll er als Strafraumg­enie, als bayerische­r Balletttän­zer mit Beton-Oberschenk­eln in Erinnerung bleiben. Um niemals vergessen zu werden.

„I hau’ halt immerzu aufs Tor. Wennst denkst, ist’s scho’ vorbei.“

 ?? FOTO: IMAGO IMAGES ?? Historisch­er Fußballmom­ent: Gerd Müller (im weißen Trikot) erzielt im WM-Endspiel 1974 gegen die Niederland­e das entscheide­nde Tor zum 2:1.
FOTO: IMAGO IMAGES Historisch­er Fußballmom­ent: Gerd Müller (im weißen Trikot) erzielt im WM-Endspiel 1974 gegen die Niederland­e das entscheide­nde Tor zum 2:1.
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FOTO: PETER KNEFFEL/DPA Gerd Müller mit seiner Frau Uschi.
 ?? FOTO: IMAGO IMAGES ?? Gerd Müller anno 1973 im Trikot des FC Bayern München.
FOTO: IMAGO IMAGES Gerd Müller anno 1973 im Trikot des FC Bayern München.

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