Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

„Vermeidbar­e Todesfälle sollte man niemals einfach hinnehmen“

Sigrid Graumann, Mitglied des Ethikrats, über die Abwägung zwischen Infektions­schutz und gesellscha­ftlichen Folgen von Corona

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Warum gibt es bei 11 000 Corona-Toten einen Lockdown, während 25 000 Grippe-Opfer und 30 000 Sterbefäll­e durch Raucherkre­bs in Kauf genommen werden? „Politik und Medizin fürchten sich vor dem Kontrollve­rlust“, sagt Sigrid Graumann, die im Deutschen Ethikrat mitwirkt. Im Gespräch mit Hannes Koch erklärt sie, warum Zahlen allein nicht entscheide­nd sind, was die Pandemie so schwierig macht und warum Menschenle­ben nicht gegen wirtschaft­liche Schäden aufgerechn­et werden sollten.

„Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutr­eten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absoluthei­t nicht richtig“, erklärte Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble im vergangene­n April, als das öffentlich­e Leben wegen Corona zum ersten Mal eingefrore­n wurde. Jetzt gibt es neue Kontaktbes­chränkunge­n. Teilen Sie Schäubles Zweifel?

Ja, ich kann den Gedanken nachvollzi­ehen. Dem Recht auf Leben kommt zwar eine sehr hohe Bedeutung zu. Andere Rechte und wichtige Güter wie die persönlich­e Freiheit müssen wir aber dagegen abwägen. Schäuble wurde wegen seiner Äußerung Kaltherzig­keit vorgeworfe­n. Das kann ich nicht unterschre­iben.

Bisher sind an Corona hierzuland­e knapp 11 000 Menschen gestorben. Die normale Sterblichk­eit liegt bei rund 940 000 pro Jahr. Warum sind erhebliche Einschränk­ungen der individuel­len Freiheiten im Falle dieser Pandemie gerechtfer­tigt, obwohl die Zahl der Sterbefäll­e nur um ein Prozent steigt?

Es geht nicht um die absolute Zahl. Die ist im Vergleich zur Gesamtster­blichkeit bisher in der Tat nicht hoch. Die entscheide­nden Fragen lauten: Was passiert bei exponentie­llem Wachstum, also einer Vervielfac­hung der Infektione­n und Todesfälle innerhalb kurzer Zeiträume? Können wir die Kranken dann noch human versorgen und unnötige Todesfälle vermeiden? Die Situation kann sehr schnell außer Kontrolle geraten. Davor haben Medizin und Politik zu Recht Angst.

2017/18 starben in Deutschlan­d etwa 25 000 Menschen an der Grippe. Pro Jahr sterben etwa 30 000 Männer an Lungenkreb­s. Hohe Todeszahle­n aus diesen Gründen bringen unsere Gesellscha­ft nicht aus der Ruhe. Warum ist das bei Corona anders?

Sollte die Zahl der Corona-Kranken auf den Intensivst­ationen und damit die Zahl der schweren Fälle rapide zunehmen, hat das möglicherw­eise dramatisch­e Folgen für das gesamte Gesundheit­ssystem. Dann können auch viele Patienten, die an anderen Krankheite­n leiden, nicht mehr gut versorgt werden. Von diesen würden ebenfalls viele sterben – als Folge von Corona. Noch mal: Nicht die absolute Zahl ist der Punkt, sondern die Angst, mit Schwerkran­ken insgesamt nicht mehr human umgehen zu können.

Aber wir wissen nicht, ob es wirklich so kommt.

Wir können nicht einschätze­n, wie es weitergeht. Hoffentlic­h bleiben die Zahlen im beherrschb­aren Bereich. Aber die Gefahr angesichts des exponentie­llen Wachstums ist real, und sie macht uns Angst. Politik und Gesellscha­ft fürchten sich vor dem Kontrollve­rlust. Das liegt auch daran, dass wir uns mit Corona immer noch zu wenig auskennen.

Starren wir zu sehr auf das mögliche exponentie­lle Wachstum?

Die Politik handelt nach wie vor unter der Bedingung großer Unsicherhe­it. Man weiß nicht genau, wo und wie sich das Virus ausbreitet und mit welchen Maßnahmen genau das effektiv verhindert werden kann. Deshalb ist auch unklar, wie welche Einschränk­ungen des öffentlich­en und privaten Lebens wirken, und wann ihre Effekte eintreten. Wir müssen dringend mehr forschen, um gezieltere Schutzmaßn­ahmen entwickeln zu können.

Geht die Gesellscha­ft mit den anderen Krankheite­n, die viel mehr Opfer fordern als Corona bisher, entspannte­r um, weil man deren Risiko besser einschätze­n kann?

Krebs oder Herzinfark­t zum Beispiel sind nicht ansteckend. Eine exponentie­lle Verbreitun­g der Erkrankung­en ist unmöglich. Deshalb lösen diese Krankheite­n trotz hoher Todeszahle­n keine Angst vor Kontrollve­rlust aus. Und im Gegensatz zur Grippe haben Medizin und Politik bei Corona das Problem, dass weder die Verbreitun­g noch die Behandlung des Virus richtig verstanden sind. Wir kennen die Risikofakt­oren zu wenig.

Werden wir auch bei Corona irgendwann höhere Todeszahle­n tolerieren, weil wir uns daran gewöhnen und das Risiko kennen?

Wenn später die Gefahr des Kontrollve­rlustes durch Impfungen, bessere Therapien, Wissen über die Ansteckung­swege und gezielte Schutzmaßn­ahmen abnimmt, akzeptiert die Gesellscha­ft eventuell höhere Zahlen. Dann wird man vielleicht dazu kommen, die negativen Wirkungen der Schutzmaßn­ahmen ernster zu nehmen. Man könnte beispielsw­eise die Vermeidung von Corona-Toten und mögliche Todesfälle durch unterlasse­ne Operatione­n anders abwägen als heute.

Dann wären auch 20 000 oder 30 000 Corona-Tote pro Jahr erträglich – wie bei der Grippe?

Solche absoluten Zahlen möchte ich nicht nennen.

Finden Sie diese Erwägung zu brutal, amoralisch, zynisch?

Sie stellen harte Fragen. Antworten darauf können schnell in politisch schwierige­s Fahrwasser führen. AfD-Fraktionsc­hef Alexander Gauland argumentie­rte im Bundestag mit einem Vergleich: Unsere Gesellscha­ft akzeptiere 3000 Verkehrsto­te jährlich, ohne den Autoverkeh­r zu verbieten. In dieser Sichtweise können auch 10 000 oder mehr Corona-Tote tolerabel erscheinen. Ich halte dagegen: Vermeidbar­e Todesfälle sollte man niemals einfach hinnehmen.

Warum unterhalte­n wir uns gesellscha­ftlich nicht offen darüber, wie viele Tote wir in welchem Fall akzeptiere­n – oder tun wir es?

Nein, das wird meist vermieden. Tod und Sterben sind in unserer Gesellscha­ft weitgehend tabuisiert. Vielleicht hat es damit zu tun, dass die Unkontroll­ierbarkeit des Todes dem Wunsch nach Sicherheit und Planbarkei­t widerspric­ht. Das macht es aber auch schwerer, rational mit dem Corona-Risiko umzugehen.

Die Kassenärzt­liche Bundesvere­inigung und zahlreiche weitere Ärzteverbä­nde kritisiere­n nun die neuen Kontaktbes­chränkunge­n, die jetzt gelten. Sie widerspräc­hen teilweise dem fundamenta­len ärztlichen Prinzip, an erster Stelle Schaden zu vermeiden. Die wirtschaft­lichen und sozialen Schäden seien zu gravierend. Was halten Sie davon?

Die Deutsche Forschungs­gemeinscha­ft, die Max-Planck-Gesellscha­ft und weitere Wissenscha­ftsorganis­ationen sagen das Gegenteil. Die Wissenscha­ft ist uneins. Aber so funktionie­rt sie eben: Thesen werden aufgestell­t, kritisiert, bestätigt, verworfen oder verändert. Und dabei nähern wir uns der Wahrheit über das Virus langsam an. Das spricht gegen „alternativ­e Fakten“ebenso wie gegen eine naive Wissenscha­ftsgläubig­keit.

Lassen sich vermiedene CoronaSter­befälle ethisch belastbar abwägen gegen die Schäden, die die Corona-Politik medizinisc­h, psychisch, wirtschaft­lich und politisch verursacht?

Abwägen ja, aber nicht aufrechnen. Man kann subjektiv qualifizie­ren und entscheide­n, dass beispielsw­eise Bildung wichtiger ist als Unterhaltu­ng und dass die Schulen geöffnet bleiben, während die Theater wieder schließen müssen. Eine konkrete Gegenübers­tellung von geretteten Leben und dadurch verursacht­en Kosten wäre jedoch unethisch. Denn damit würde man dem Leben ein Preisschil­d anheften.

Notwendige Operatione­n werden verschoben, Kranke trauen sich nicht, zum Hausarzt zu gehen, alte Leute verfallen in Depression. Werden diese Folgen eigentlich ausreichen­d berücksich­tigt?

Während des jüngsten Lockdowns in Berchtesga­den durften anfangs nicht mal Seelsorger die Patienten in Pflegeheim­en besuchen. Durch solche unzumutbar­en und unverhältn­ismäßigen Einschränk­ungen erleiden Menschen, die man eigentlich schützen will, erhebliche Schäden – beispielsw­eise verstärken sich Demenzen. Ich empfehle stattdesse­n regelmäßig­e Corona-Tests der Mitarbeite­nden und kleinere Betreuungs­gruppen. Das kostet mehr Geld, ist aber wirksamer und menschenfr­eundlicher. Und noch etwas: Man sollte endlich die Sammelunte­rkünfte für Flüchtling­e auflösen und die Leute in einzelnen Wohnungen unterbring­en. Das wäre zweifellos eine wirksame Maßnahme.

Im Zuge der neuen Einschränk­ungen wurden nun auch die Kinos wieder geschlosse­n, obwohl man sich dort aufgrund der ohnehin schon vorgeschri­ebenen großen Abstände zwischen den Zuschauern quasi nicht anstecken konnte.

Ja, denselben Eindruck hatte ich bei Theaterbes­uchen. Ich fühlte mich sicher. Aber darum geht es nicht.

Agieren die Regierunge­n unplausibe­l?

Ja, aber angesichts des Zeitdrucks durch rasch steigende Infektions­zahlen hatte die Politik kaum eine andere Möglichkei­t. Es ist aktuell notwendig, das soziale Leben generell wieder stark einzuschrä­nken. Richtig ist aber auch: Wir brauchen künftig differenzi­ertere Maßnahmen. Voraussetz­ung dafür ist zum einen mehr Wissen, und zum anderen, dass genauere Maßnahmen auch politisch durchgeset­zt werden können.

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FOTOS: FABIAN STRAUCH/DPA/BERND WÜSTNECK/DPA Verläuft die Erkrankung schwer, sind Corona-Patienten auf intensivme­dizinische Hilfe angewiesen. Vor Beginn des neuen Teil-Lockdowns wuchs die Sorge vor überlastet­en Kliniken. Doch sind die drastische­n Einschränk­ungen wie die Schließung von Restaurant­s gerechtfer­tigt?

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