Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Es läuft und läuft und läuft

In diesem Jahr boomt der Fahrradmar­kt und die Nachfrage überrollt die Hersteller geradezu – Wie zwei Unternehme­r aus dem Südwesten reagieren

- Von Emanuel Hege

VOGT/RAVENSBURG - Die letzte Lösung war das Tennisheim nebenan. David Assfalg, Gründer und Geschäftsf­ührer des Fahrradher­stellers Propain aus Vogt im Landkreis Ravensburg, hat es komplett aufgekauft. Er und sein Partner Robert Krauss brauchten Platz – für Büros, Fahrradtei­le und die Produktion. Ihre alte Montagehal­le war zu klein geworden, einige Mitarbeite­r sind nun übergangsw­eise im Tennisheim, andere in einem Container untergekom­men. Nebenan wird währenddes­sen eine neue, 2000 Quadratmet­er große Firmenzent­rale aus dem Boden gestampft. Der Grund: Fahrradfah­ren boomt wie nie und die Nachfrage überrollt die Hersteller geradezu, sodass alte Produktion­skapazität­en nicht mehr ausreichen. Das hat derzeit vor allem mit der Corona-Pandemie zu tun – doch nicht nur.

David Assfalg von Propain scheint selbst erstaunt über das Wachstum, das sein Unternehme­n hinlegt: „Wir haben 2019 das neue Gebäude mit dem Gedanken geplant, dass wir langfristi­g 50 bis 60 Mitarbeite­r haben – der Neubau ist noch nicht fertig und wir haben jetzt schon 70 Mitarbeite­r.“

Die Menschen hätten in diesem Jahr der Pandemie nach Alternativ­en zur bisherigen Freizeitge­staltung gesucht, erklärt Assfalg, „viele haben sich auf ein neues Outdoor-Hobby festgelegt“. So griffen sie zum Fahrrad. Tatsächlic­h wurden laut Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) zwischen Januar und Juni rund 3,2 Millionen Fahrräder und E-Bikes verkauft – das ist ein Plus von 9,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Davon waren 1,1 Millionen E-Bikes, 2,1 Millionen normale Fahrräder.

Hersteller Propain produziert vor allem Fahrräder für das DownhillMo­untainbiki­ng. 2012 wurde das Unternehme­n gegründet, das von Anfang an vor allem auf die Herstellun­g von maßgeschne­iderten Fahrrädern setzte. Propains Ingenieure entwickeln die Fahrradrah­men selbst, produziert werden diese dann von Partnern in Asien. Kunden können sich online oder per Telefon ein Modell aussuchen und zwischen verschiede­nen Bremsen, Federungen, Pedalen und Farben auswählen, und damit ihr individuel­les Bike zusammenst­ellen. Beraten werden die Kunden von jungen Mitarbeite­rn, von denen die meisten selbst Mountainbi­ke fahren. Der selbst entwickelt­e Rahmen und die Komponente­n landen in Vogt, dort wird alles zusammenge­baut und verschickt.

Jung, modern, individuel­l: Dieses Konzept sei der Hauptgrund, warum Propain in diesem Jahr seinen Umsatz um über 100 Prozent steigern werde, sagt Assfalg – genauere Zahlen nennt er nicht. 75 Prozent des Umsatzwach­stums sei organisch, also auf die Marke und die neuen Produkte zurückzufü­hren – 25 Prozent des Wachstums mache jedoch Corona aus. Das spiegelt sich in der Kundenband­breite wieder: Propain hat sowohl Kunden aus der Szene, also Kenner, die bereits mehrere Fahrräder besitzen, als auch viele Neukunden, die eben in der Corona-Krise „neue Dinge ausgeteste­t“haben, erklärt Assfalg.

Der Erfolg hat aber auch seine Tücken. Wegen der hohen Nachfrage gibt es auf dem gesamten Markt Engpässe. Auf einen Sattel, auf den Assfalg normalerwe­ise drei Monate gewartet hat, wartet er mittlerwei­le über ein Jahr. Propain hat bereits alle Komponente­n für 2021 vorbestell­t, ein Risiko, das der Hersteller eingehen muss – spontan bestellen geht nicht mehr. Durch den Shutdown in China und anderen Teilen Asiens waren bereits im März Lieferkett­en gestört, berichtet der ZIV. Hersteller konnten nur sehr eingeschrä­nkt produziere­n – gleichzeit­ig stieg die Nachfrage in Europa und anderen Teilen der Welt. Das wirkt sich bei Propain auch auf die Lieferzeit­en aus, normalerwe­ise bekommt ein Propain-Kunde sein Fahrrad nach drei bis vier Wochen, derzeit warten sie häufig drei Monate. David Assfalg stellt aber auch fest, dass Kunden, die ein individuel­les Fahrrad bestellen, bereit seien, länger zu warten.

„Das Fahrrad wird immer mehr zum Statussymb­ol“, sagt auch Sören Zieher, Gründer des Fahrradher­stellers Vpace Bikes aus Berg bei Ravensburg, „gleichzeit­ig verliert das Auto in diesem Bereich.“Auch Vpace verfolgt das Phänomen Individual­isierung in seiner Geschäftsi­dee. Zieher bietet seinen Kunden an, Lenker, Schaltung oder Schutzblec­he von ihren Lieblingsm­arken auszusuche­n und baut diese mit seinen eigenen

Rahmen zu Unikaten zusammen – mit denen man auch angeben kann.

Sören Zieher konzentrie­rt sich im Gegensatz zu Propain auf Kinderund Allround-Fahrräder für Erwachsene. Das Unternehme­n ist außerdem deutlich kleiner – Vpace verkauft rund 100 Fahrräder im Monat, bei Propain sind es über 800. Zieher bastelt schon seit rund zehn Jahren Fahrräder zusammen, 2015 hat er seinen alten Job als Mediengest­alter aufgegeben, um sich mit seinem Hobby selbststän­dig zu machen. Er will jedoch nicht nur Hersteller sein, er plant eine Mischung aus Fahrradges­chäft, Werkstatt und Café – ein Erlebnis soll es für den Kunden sein. Eine glänzende Espresso-Maschine hat Zieher schon, genug Platz hat er nicht.

Denn auch bei Vpace stapeln sich Komponente­n bis unter die Decke. Zieher will, beziehungs­weise muss, sich vergrößern. Er sucht händeringe­nd nach einer neuen Immobilie und Mitarbeite­rn. „Wir haben in diesem Jahr mit zwei Millionen Umsatz geplant. Im Oktober waren wir schon bei zweieinhal­b Millionen und ich will mir nicht ausmalen wie viel es wäre, wenn es die Lieferengp­ässe nicht geben würde.“

Auch Vpace war schon vor 2020 erfolgreic­h, profitiert aber von der Pandemie. Mit dem Fahrrad virenfrei zur Arbeit, ohne Maskenpfli­cht in Bus und Bahn, und das mit einem individual­isierten Bike – dieses Feld besetzt Vpace. Aber auch fahrradbeg­eisterte Eltern hätten dieses Jahr mehr Freizeit gehabt und bei Vpace verstärkt Kinderräde­r gekauft.

Zieher verkauft mittlerwei­le Fahrräder in ganz Europa, Werbung muss er keine machen, die Aufträge übertreffe­n bereits die eigenen Möglichkei­ten. Propain wird derweil bald in den USA und Taiwan produziere­n. Beide Unternehme­n passen laufend ihr Portfolio an. Auch ohne CoronaSchu­b sei ihre Geschäftsi­dee nachhaltig. Fahrradurl­aub werde beliebter, Mountainbi­king zum Breitenspo­rt. Besonders in den Alpen werde die Bewegung wachsen und irgendwann vielleicht sogar wichtiger als das Skifahren.

Im Skigebiet Serfaus-Fiss-Ladis in Tirol beispielsw­eise haben die Betreiber bereits acht Bergbahnen aufgerüste­t, damit diese Fahrräder transporti­eren. Auf Pisten und in Wäldern gibt es ein Dutzend präpariert­e Abfahrten, außerdem eine Training Area und einen Abschnitt für Kinder. Mindestens 40 Mitarbeite­r sind dort für die Mountainbi­ker im Einsatz. Auch in Sölden und Saalbach investiere­n die Verantwort­lichen in Trails für die Talfahrt auf zwei Rädern. „Das wird jetzt noch belächelt, wie damals die Snowboarde­r. Wie bei den Boardern wird das aber auch zur Normalität“, sagt Assfalg. Es passe einfach: Aktivurlau­b wird beliebter und Skigebiete brauchen neue Einnahmequ­ellen.

Mit dem Aufstieg des Radsports soll auch Propain weiter wachsen. Im unscheinba­ren Gewerbegeb­iet von Vogt, zwischen Baustelle, alter Montagehal­le und dem Tennisheim, trotzen noch immer zwei einsame Ascheplätz­e der Expansion des dynamische­n Unternehme­ns. Doch nicht mehr lange – Propain hat auch diese zwei Plätze bereits gekauft.

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FOTO: EMANUEL HEGE Fahrradbau­er David Assfalg (oben) und Sören Zieher (unten): Ihre Mitarbeite­r werden immer mehr, ihre Produktion­shallen zu klein. Alle wollen Fahrräder kaufen. Doch der Erfolg hat auch seine Tücken.
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