Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Berlins gefährlich­e Tschetsche­nen

Clan-Bandenkrie­g in der Hauptstadt– Zwischen Revierabgr­enzung, Ehrpussele­i und Religion

- Von Andreas Rabenstein

BERLIN (dpa) - Es ist ein sensibles Thema für die Berliner Polizei. Kriminelle Mitglieder eines bekannten arabischst­ämmigen Clans und gewalttäti­ge Tschetsche­nen liefern sich brutale Auseinande­rsetzungen mit zahlreiche­n Verletzten in aller Öffentlich­keit. Und die Polizei soll zur Beruhigung der Lage in Kontakt mit einem prominente­n arabischst­ämmigen Profiboxer stehen.

„Es war keine Selbstjust­iz, sondern alles in Absprache mit der Polizei“, schrieb der Boxer Manuel Charr unter seinem eigentlich­en Namen Mahmoud Charr am Mittwoch bei Instagram. Dazu stellte er Fotos von sieben ernst blickenden und weitgehend in schwarz gekleidete­n Männern auf Ledersofas.

Dass die verbreitet­e Parallelju­stiz in arabischst­ämmigen Kreisen mit sogenannte­n Friedensri­chtern, Absprachen und Geldzahlun­gen akzeptiert werde, wollte die Polizei nicht auf sich sitzen lassen. Sie erklärte schriftlic­h, sie habe „keine Absprachen mit Herrn Charr geführt bzw. getroffen“– das Wort „keine“war unterstric­hen. Unbekannt sei, ob „Herr Charr tatsächlic­h in der von ihm behauptete­n Funktion zwischen den Konfliktpa­rteien auftritt oder aufgetrete­n ist“.

Tatsächlic­h sind die Probleme nicht nur mit arabischst­ämmigen Clans, sondern auch mit Tschetsche­nen schon groß genug. Dass die Gruppen nun in einen Bandenkrie­g verwickelt sein sollen, macht die Sache nicht einfacher.

Kriminelle Tschetsche­nen gelten als besonders gewalttäti­g, wie das Bundeskrim­inalamt (BKA) kürzlich in einem Lageberich­t schrieb. Die Banden „wiesen eine überdurchs­chnittlich hohe Eskalation­s- und Gewaltbere­itschaft auf“. Berlin kennt das. Vor drei Jahren beschossen Mitglieder der Szene ein Café im Ortsteil Wedding mit einer Maschinenp­istole. Das Schaufenst­er wurde durchsiebt.

Am vergangene­n Wochenende gingen Dutzende Männer erst mal nur mit Schlagstöc­ken und Messern aufeinande­r los. Darunter auch „Mitglieder einer bekannten Großfamili­e“, so die Polizei. Am Samstagabe­nd wurde ein Spätkauf in Neukölln, der mit dem Clan in Verbindung stehen soll, von einem Trupp Angreifer überfallen. 30 Männer stachen und schlugen mit Messern, Fäusten, Möbeln und Wasserpfei­fen aufeinande­r ein. Die Polizei fasste sechs Männer mit russischer Staatsange­hörigkeit und tschetsche­nischer Herkunft als mutmaßlich­e Täter.

Kurz darauf prügelten zehn Männer am Bahnhof Gesundbrun­nen im Norden Berlins auf eine andere Männergrup­pe ein. Zurück blieben russische Verletzte mit Platz- und Stichwunde­n. Am Sonntag der nächste Überfall vor dem gleichen Bahnhof: 20 Männer schlugen, auf Arabisch rufend, zwei andere zusammen. Ein Angreifer stach am Schluss gezielt in den Rücken eines bereits Verletzten. Erneut stammten die Opfer aus Tschetsche­nien. Zu weiteren Angriffen will die Polizei nichts sagen, verneint die Frage aber auch nicht.

Russische und tschetsche­nische Banden sind nicht nur ein Berliner Problem. 2019 führten die Polizeibeh­örden in Deutschlan­d laut BKA-Lagebild 27 große Ermittlung­sverfahren gegen Gruppen, deren Mitglieder aus Staaten der früheren Sowjetunio­n stammen. Meist geht es um Drogenhand­el, Diebstahl, Raub, Schutzgeld­erpressung. In sechs Fällen wurden die Banden von Tschetsche­nen dominiert. Dreimal spielten auch versuchte und vollendete Tötungsdel­ikte eine Rolle.

Die Abteilung 4 des Berliner LKA, zuständig für organisier­te Kriminalit­ät (OK), schrieb vor einem Jahr:

„Vor dem Hintergrun­d ihres auf extremer Gewaltanwe­ndung und Abschrecku­ng basierende­n Vorgehens und dem starken Streben, ihren Einfluss in alle Richtungen auszubauen, haben tschetsche­nische OK-Gruppierun­gen in den letzten Jahren ihren Einfluss hier merklich ausgeweite­t.“

Hinzu kommt eine weitere Gefahr: „Vereinzelt sind Verbindung­en von Einzelpers­onen der tschetsche­nischen OK-Szene zu islamistis­chen Strukturen erkennbar.“So richtete sich im Januar eine Razzia in Berlin, Brandenbur­g, Nordrhein-Westfalen und Thüringen gegen mutmaßlich­e Islamisten tschetsche­nischer Abstammung. Sie sollen eine Synagoge und ein Einkaufsze­ntrum ausgespäht haben. Von der üblichen Bandenkrim­inalität sind vor allem Bundesländ­er im Osten betroffen. In Magdeburg ging es kürzlich vor Gericht um zwei Überfälle von vier bewaffnete­n Männern – zum Teil aus Tschetsche­nien – auf eine Shisha-Bar. In Rheinsberg nördlich von Berlin kam es zwei Abende hintereina­nder zu Schlägerei­en großer Männergrup­pen, an denen überwiegen­d Tschetsche­nen und Syrer beteiligt waren. In Thüringen zerschlug die Polizei im Juni eine Bande tschetsche­nischer Drogenhänd­ler. Bei Kontaktleu­ten fand man neben viel Bargeld und Drogen auch eine Maschinenp­istole.

Die russische Teilrepubl­ik Tschetsche­nien an der Grenze zu Georgien ist seit Jahrzehnte­n Konfliktre­gion. Nach dem Zerfall der Sowjetunio­n verhindert­e Moskau eine Abspaltung in Kriegen mit Zehntausen­den Toten. Der Verfassung­sschutz schrieb 2017, die Zahl tschetsche­nischer Asylbewerb­er sei stark gestiegen. Die Szene sei gekennzeic­hnet durch große Netzwerke und eine Abschottun­g nach außen. Entscheide­nder Faktor für eine islamistis­che Radikalisi­erung seien persönlich­e Kontakte. Religion und Tradition seien das verbindend­e Element.

Der Grund für den Bandenkrie­g in Berlin ist nicht ganz klar. Ging es um Revierstre­itigkeiten oder doch um Religion und Ehre? Der Boxer Charr schrieb etwas nebulös: „Meine Brüder in Allah, wir sollten besser zwischen uns in Ordnung bringen, wenn wir uns zu einem religiösen Thema widersprec­hen.“Die Polizei zeigte sich erstaunt, dass sie in dem Charr-Text überhaupt erwähnt wurde. „Das ist das große Rätsel, wie er dazu kommt.“Vielleicht gehe es dem Boxer um seine Reputation. Oder er wolle die Polizei ärgern.

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FOTO: PAUL ZINKEN/DPA Die Nummern auf einer Scheibe einer Bar in der Groninger Straße in Berlin-Wedding zeigen 16 Einschüsse. Gefeuert wurde aus Fahrzeugen heraus auf den Eingangsbe­reich des Etablissem­ents.

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