Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Als würde es gerade erst beginnen
Lewis Hamilton egalisiert Michael Schumachers Rekord und wird zum siebten Mal Formel-1-Weltmeister
ISTANBUL (SID) - Lewis Hamilton lachte, weinte und schrie vor Freude, als er die Geschichtsbücher der Formel 1 umgeschrieben hatte. Mit diesem Sieg in Istanbul am 15. November 2020 war sein siebter WM-Titel perfekt, die Bestmarke von Michael Schumacher erreicht. „An alle Kinder da draußen, die vom Unmöglichen träumen“, rief der Brite gleich nach der Zieldurchfahrt in den Funk: „Ihr könnt alles schaffen, glaubt an euch!“
Und dann wollte Hamilton gar nicht aussteigen aus dem MercedesSilberpfeil, den er auf der rutschigen, öligen Strecke in der Türkei eindrucksvoll zum nächsten Triumph gesteuert hatte. Sebastian Vettel war der erste Gratulant, der Ferrari-Pilot hatte als Dritter völlig überraschend sein erstes Podium des Jahres eingefahren (siehe Text unten), und er beugte sich lange über Hamiltons Cockpit. „Wir dürfen ihm zuschauen, wie er Geschichte schreibt, das habe ich ihm gesagt“, erklärte Vettel später. „Er hat das alles verdient.“
Erst danach kletterte der alte und neue Weltmeister aus seinem Boliden, sprang fast jedem aus seinem Team in die Arme, warf später den Pokal wieder und wieder in die Luft. „Ich bin sprachlos“, sagte er, „das übertrifft meine wildesten Träume. Wir haben alle gesehen, wie Michael Schumacher all diese Titel gewonnen hat, wir sind damit aufgewachsen.“
Und nun, das wusste auch Lewis Hamilton, hat in der Motorsport-Königsklasse eine neue Ära begonnen. Nicht mehr Schumacher allein ist die ultimative Messlatte für folgende Generationen, Hamilton steht auf Augenhöhe. Und kann den Rekord aller Rekorde in Zukunft sogar noch ausbauen – wenn er denn seinen auslaufenden Vertrag verlängert.
Darauf aber deutet eigentlich alles hin, Hamiltons Worte nach dem Sieg waren der nächste Hinweis. „Ich habe das Gefühl, dass es gerade erst beginnt“,
„Wir werden das mit dem Vertrag hinbekommen, ich bin sicher.“Lewis Hamilton über seine Zukunft – bei Mercedes
sagte er. „Körperlich bin ich in großartiger Form, mental auch. Ich glaube, dass ich immer noch viel Arbeit vor mir habe.“Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff ging nach dem Rennen davon aus, „dass wir noch eine Weile zusammen weitermachen. Auch“– fügte er lachend an – „wenn er heute sicherlich teurer geworden ist.“Diese Saison kann Mercedes nun ausklingen lassen, Konstrukteursweltmeister ist man bereits, noch drei Rennen stehen an.
Valtteri Bottas, Lewis Hamiltons Teamkollege und bis Sonntag letzter Titelkonkurrent, kam auf der rutschigen Strecke gar nicht zurecht, wurde vom Champion gar überrundet – es war ein Machtbeweis Hamiltons und eine Demütigung für den Finnen zugleich.
So bot auch das Rennen in Istanbul am Ende ein gewohntes Ergebnis, der Weg dorthin war allerdings höchst turbulent und unterhaltsam. Dabei hatte vor dem Wochenende wirklich alles auf eine langweilige, vorhersehbare Krönungsmesse für Hamilton hingedeutet. Der Engländer musste ja kaum noch Großes leisten für den vorzeitigen Triumph, so deutlich war der Vorsprung auf Bottas.
Doch es kam anders: Als die roten Ampeln ausgingen, schlingerten die Autos in Richtung erste Kurve, zahlreiche Piloten kamen fast gar nicht vom Fleck. Zu den Gewinnern des Starts gehörte Vettel, der von Rang elf auf Position vier vorschoss. Hamilton hielt sich im vorderen Feld, Bottas dagegen drehte sich im Getümmel und war fortan kein Faktor mehr.
Die Strecke wurde etwas trockener, und schon nach etwa zehn Runden hatten alle Piloten die Regenreifen gegen Intermediates getauscht. Hamilton lag nun hinter Vettel, sein Auto war schneller, doch er scheiterte mit mehreren Angriffen. „Ich verliere hier so viel Zeit, ich komme einfach nicht vorbei“, funkte er genervt an die Box.
Das war durchaus bemerkenswert, schließlich musste er ja gar nicht vorbei. Denn Bottas hing ganz hinten fest, und Hamilton ließ es nun bald auch ruhiger angehen, um seine Reifen zu schonen.
Das sollte sich auszahlen. Nach und nach kamen die Piloten im letzten
„Mit 40 Jahren werde ich nicht mehr hier sein, aber ich bin erst 35. Ich fühle mich jung und frisch.“Lewis Hamilton
Renndrittel an die Box, holten sich neue Intermediates. Hamilton blieb draußen, rückte dadurch an die Spitze – und drehte mit den ältesten Reifen im Feld die schnellsten Runden. Allmählich wurde klar: Muss Hamilton nicht mehr an die Box, dann gewinnt er das Rennen. „Wie lange halten diese Reifen?!“, fragte er seine Box, „die werden doch nicht platzen?“Doch sie hielten, und Reifenflüsterer Hamilton raste zum Titel-Rekord.
Dem Anlass gerecht mit einem nach Training und Qualifying (hier triumphierte Lance Stroll im RacingPoint-Mercedes) kaum mehr erwarteten Sieg – dem 94. seiner Karriere.