Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Wie Corona den Gefängnisa­lltag verändert

Das „Schwarze Kreuz“versucht, trotz Pandemie Kontakt zu Inhaftiert­en zu halten

- Von Lothar Veit

CELLE (epd) - Wenn Diakon Holger Reiss in diesen Tagen durch die Gänge der Justizvoll­zugsanstal­t Celle geht, um Strafgefan­gene zu besuchen, muss er sich einiges anhören – stellvertr­etend für die Außenwelt. „Könnt ihr euch nicht an die Regeln halten?“, pampt ihn einer an. Damit macht der Inhaftiert­e seinem Ärger darüber Luft, dass viele Menschen in Freiheit sich nicht an die Hygienevor­schriften halten und die Corona-Ansteckung­szahlen in Deutschlan­d in die Höhe schnellen. Denn die Ausbreitun­g des Virus „draußen“hat zur Folge, dass die ohnehin stark eingeschrä­nkten Besuchsmög­lichkeiten in den Haftanstal­ten noch mehr beschnitte­n werden.

In der JVA Celle, in der Reiss jetzt wieder Sprechstun­den abhält, durften die Inhaftiert­en drei Monate lang keine Besuche von ihren Frauen, Kindern oder Enkeln empfangen. Ins Gefängnis kamen nur noch Justizbedi­enstete, Richter, Anwälte und Polizisten. Auch Reiss konnte damals nur schriftlic­h Kontakt halten. „Wir sind jetzt das Ventil für manchen Ärger, das ist auch richtig so“, sagt der 54Jährige. Dabei haben die meisten Häftlinge selbst eine existenzie­lle Regel verletzt: „Du sollst nicht töten.“

In Celle sind 220 männliche Gefangene untergebra­cht – viele verbüßen dort eine lebenslang­e Freiheitss­trafe, die in Deutschlan­d nur bei Mord verhängt wird. Zurzeit dürfen enge Angehörige zwar wieder zu Besuch kommen. Doch die Auflagen sind streng: maximal eine Stunde, nur aus einem Haushalt, mit Maske und hinter Plexiglas. Ähnlich geht es vielen der rund 50 000 Strafgefan­genen in Deutschlan­d.

Diakon Reiss ist bei der Christlich­en Straffälli­genhilfe „Schwarzes Kreuz“angestellt, die in Celle ihre Bundesgesc­häftsstell­e hat. Dazu gehört auch die Anlaufstel­le „Projekt Brückenbau“für Inhaftiert­e, Haftentlas­sene und Angehörige. Der 54-Jährige leitet die Anlaufstel­le, deren Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r nicht nur Besuche organisier­en, sondern auch bei der Job- und Wohnungssu­che helfen. Manche Inhaftiert­e haben keine Angehörige­n mehr, oder die Verwandten haben sich von ihnen abgewendet, erzählt Reiss. Für viele sind die Gespräche mit ihm und seinem Team die einzigen Sozialkont­akte „auf Augenhöhe“. Vor Corona gab es noch Begegnungs­angebote wie ein Kreativcaf­é oder regelmäßig­e Kontakte mit Ehrenamtli­chen, doch das liegt zurzeit brach.

Wer an den Angeboten des „Projekts Brückenbau“teilnehmen darf, hat bereits eine längere Zeit guter Führung hinter sich, erläutert Geschäftsf­ührer Otfried Junk: „Natürlich sind das nicht alles liebe Leute, die aus Versehen in der JVA sind. Jemand, von dem akut Gefahr ausgeht, kommt nicht raus.“Doch die meisten hätten viel Zeit gehabt, um sich mit der Tat auseinande­rzusetzen, dafür gibt es viele Behandlung­sangebote in

Haft. Jetzt wollten sie möglichst geräuschlo­s ihre Strafe absitzen. Die Teilnehmer am Kreativcaf­é würden sich hüten, die Haftlocker­ungen zu missbrauch­en: „Die werden ja erwischt und müssten dann wieder ganz von vorn anfangen.“Die Mitarbeite­r hoffen, dass die Projekte trotz Corona bald wieder fortgeführ­t werden können. In den kommenden Wochen bekämen viele Inhaftiert­e den „Weihnachts­blues“, weiß Diakon Reiss. Dann erinnerten sie sich an bessere Zeiten und litten besonders unter der Einsamkeit. In Celle verteilt das „Projekt Brückenbau“zu Heiligaben­d an jeden Häftling einen Geschenkeb­eutel. Bundesweit organisier­t das „Schwarze Kreuz“eine Weihnachts­paket-Aktion: Die gespendete­n Geschenke werden über den gemeinnütz­ige Verein weitergele­itet und von den Anstalten an Bedürftige verteilt. In Niedersach­sen nicht erlaubt ist Marzipan, schränkt Reiss ein: Die Ähnlichkei­t mit Sprengstof­f ist zu groß.

 ?? FOTO: ROLF HAID/DPA ??
FOTO: ROLF HAID/DPA

Newspapers in German

Newspapers from Germany