Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Genug der schönen Worte
Die Karenzzeit ist seit Längerem vorbei. Wer allerdings von Ursula von der Leyen erwartet hat, dass sie in ihren ersten zwölf Monaten als EU-Kommissionspräsidentin spektakulär in Erscheinung treten würde, der dürfte sich getäuscht haben. Die Rahmenbedingungen waren schlecht für die Kompromisskandidatin Frankreichs und Deutschlands, unabhängig von dem komplizierten Austarieren der Interessen der 27 EU-Mitglieder. Der noch amtierende US-Präsident Donald Trump attackierte die Europäische Union, beschimpfte Verbündete wie Feinde, stärkte den britischen EU-Aussteigern zumindest rhetorisch den Rücken.
Nach dem Brexit ist bis heute offen, ob es einen Vertrag zwischen Brüssel und London über die zukünftigen Handelsbeziehungen geben wird. Die Corona-Pandemie zeigte dann, dass nationale Egoismen nach wie vor existent sind, die unabgestimmten Grenzschließungen innerhalb der EU brachten den freien Warenverkehr in massive Schwierigkeiten. Dass sich Ungarn und Polen dann auch noch gegen die Rechtsstaatlichkeitsgebote der Union stellen und mit ihrem Veto Corona-Hilfen blockieren, ist mehr als eine kleinere Randerscheinung. Die EU stand und steht von außen wie von innen unter erheblichem Druck.
Erfahrene EU-Politiker zitieren zwar immer wieder das Bonmot „Krise ist immer“, aber das erste Jahr an der Spitze der EU-Administration war für die frühere Bundesverteidigungsministerin kein Zuckerschlecken. Sie hat es dennoch nicht schlecht gemacht. Doch nun muss mehr kommen. Hinter Trump kann sich niemand mehr verstecken. Mit Joe Biden wird ein US-Amerikaner Präsident, der die internationale Zusammenarbeit schätzt. Klimaschutz und Wirtschaftspolitik bedürfen einer gemeinsamen Linie demokratischer Staaten, wenn die hochbeschworenen Werte tatsächlich eine Rolle spielen sollten. Auch in der gemeinsamen Verteidigungspolitik gibt es dank der Nato viele Schnittmengen, aber auch hier muss gehandelt werden. Der schönen Worte sind genug gewechselt.