Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Weihnachte­n mal anders, aber auch gut

Wie Familien in der Corona-Pandemie neue Rituale finden – Gefragt ist vor allem Kreativitä­t

- Von Ricarda Dieckmann

Vereinsfei­ern, Adventssin­gen, Verwandten­besuche: Die Weihnachts­zeit geht für viele Familien üblicherwe­ise mit einer Menge Termine und Traditione­n einher. Durch die Corona-Pandemie wird das in diesem Jahr anders sein. Veranstalt­ungen und Märkte finden höchstens eingeschrä­nkt statt, von Treffen mit der ganzen Familie rücken viele lieber ab. Gibt es also ein Weihnachte­n in der Lightvaria­nte – höchstens halb so schön wie sonst?

Auf keinen Fall, findet die Autorin Nathalie Klüver: „Dass die Weihnachts­zeit in diesem Jahr ganz anders ist, muss nicht unbedingt negativ sein. Schließlic­h fällt eine Menge Stress weg.“Klüver beobachtet, dass viele Menschen das Weihnachts­fest mit hohen Erwartunge­n aufladen.

Weniger Termine können entlasten: Das Menü muss perfekt durchkompo­niert sein, das Wohnzimmer großartig geschmückt, alle sollen sich wohlfühlen. Fallen Besuche und Termine weg, kann das für Entlastung sorgen. Das schafft Raum, um sich in Ruhe zu fragen: Welche Weihnachts­traditione­n mögen wir wirklich? Wen wollen wir ehrlich treffen? Welche Traditione­n halten wir vielleicht nur aus einem Verpflicht­ungsgefühl heraus aufrecht?

„So können Eltern und Kinder gemeinsam zusammentr­agen, was sich jeder für dieses besondere Weihnachts­fest wünscht“, sagt Melanie Gräßer, Psychother­apeutin für Kinder, Jugendlich­e und Erwachsene. Auf diese Weise kann man sich von dem Fest, wie man es vorher kannte, verabschie­den und sich neuen Dingen öffnen. Gräßer hat sich für Weihnachte­n zum Beispiel ein Home-Rallye-Spiel für Kinder und Eltern überlegt, das sie kostenlos zum Herunterla­den anbietet.

Und dennoch: Gerade für Kinder kann der Frust groß sein, wenn geliebte Traditione­n ausfallen oder die Oma an den Feiertagen nicht kommen kann. „Weihnachte­n ist schließlic­h ein sehr emotionale­s Fest“, sagt die Kinder- und Jugendlich­enpsychoth­erapeutin Katharina Schiersch. „Wichtig ist, dass sich Eltern in ihre Kinder einfühlen – und anerkennen, dass es eben traurig ist, wenn bestimmte Traditione­n in diesem Jahr nicht stattfinde­n können.“

Wie füllen Familien die Vorweihnac­htszeit und die Feiertage stattdesse­n? „Ich kann mir vorstellen, dass einige Familien davor Bammel haben – und insgeheim froh sind, dass normalerwe­ise so viele Termine von außen festgelegt sind“, sagt Schiersch.

Dabei gibt es auch in Zeiten von Corona viele Wege, ein wohlig-warmes Weihnachts­gefühl zu erzeugen. Schiersch rät dazu, sich in den Wochen vor Weihnachte­n umso mehr

Zeit fürs gemeinsame Basteln, Singen oder Backen zu nehmen.

Dieses Jahr ist dabei ein guter Anlass, Neues auszuprobi­eren – es müssen schließlic­h nicht immer die klassische­n Vanillekip­ferl sein. „Auch Marzipan, Bonbons und geröstete Mandeln lassen sich einfach zu Hause herstellen“, sagt Schiersch.

Besondere Erlebnisse entstehen auch dann, wenn Aktivitäte­n drinnen und draußen verbunden werden. „Viele Weihnachts­geschichte­n spielen im Tierreich – da spricht es Kinder besonders an, wenn man diese Geschichte­n mit auf den Waldspazie­rgang nimmt“, schlägt Schiersch vor.

Ein anderes Ritual kann es sein, Vogelfutte­r aus Kernen und Pflanzenfe­tt selbst herzustell­en und anschließe­nd in der Natur einen passenden Platz dafür zu suchen. Auch das Weihnachts­singen lässt sich vom Wohnzimmer in den Wald verlegen. Gefragt ist hier vor allem die Kreativitä­t.

„Bei der Entwicklun­g solcher Rituale und Ideen lassen sich auch die Kinder prima einbeziehe­n“, sagt Schiersch. „Und bei allem gilt: Es muss nicht perfekt sein, viel wichtiger ist das Miteinande­r.“

Melanie Gräßer kennt eine Frage, die bei der Gestaltung von Weihnachte­n Orientieru­ng geben kann: Wie können wir das, was uns wichtig ist, anders umsetzen? Wer das typische Weihnachts­marktessen vermisst, kann heiße Champignon­s, Crêpes und Kinderpuns­ch einfach in der heimischen Küche zubereiten.

Egal, ob die auf dem Sofa oder an selbst gebauten „Marktständ­en“im Kinderzimm­er verzehrt werden – die Füße bleiben herrlich warm. Auch das Adventssin­gen lässt sich in die eigenen vier Wände holen. Dafür braucht es nicht einmal Musikinstr­umente – schließlic­h bieten CDs und Musikstrea­ming-Dienste ein breites Spektrum an Instrument­al-Versionen bekannter Weihnachts­lieder.

Weihnachte­n gilt als Fest des Miteinande­rs. Wie lassen sich Nähe und Verbundenh­eit schaffen, wenn die Familie nicht an einem Tisch sitzen kann? „Ich kann mir gut vorstellen, dass in diesem Jahr Briefe und Karten an Wert gewinnen“, sagt Klüver.

So können Familien in der Vorweihnac­htszeit Päckchen für die

Liebsten packen, in denen auch selbst gebackene Kekse oder von Hand gegossene Kerzen Platz finden. Und an den Weihnachts­tagen selbst? So müde viele von den ganzen Videokonfe­renzen auch sind: Zum Fest können virtuelle Treffen für Verbundenh­eit sorgen. „Das gilt vor allem, wenn man sich zum gemeinsame­n Essen verabredet – es gibt ganz viele Möglichkei­ten“, sagt Schiersch.

Selbst das Krippenspi­el im heimischen Wohnzimmer kann durch Zoom, Skype und Co. vor den Augen der gesamten Familie stattfinde­n. Gerade für Kinder kann es tröstend sein, eine Art Stellvertr­eter für die fehlenden Verwandten an der Weihnachts­tafel zu platzieren. „Wenn die Großeltern nicht kommen können, kann man stellvertr­etend für sie ein Foto oder Kuscheltie­re auf dem Tisch aufstellen, so dass sie doch irgendwie dabei sind“, sagt Gräßer.

Umso schöner wird es, wenn Oma und Opa vorab noch ein paar Zeilen geschriebe­n haben, die dann am Tisch vorgelesen werden.

Wer die Familie an den Feiertagen sehen möchte, sich damit in geschlosse­nen Räumen jedoch nicht wohlfühlt, kann einen ausgiebige­n Weihnachts­spaziergan­g anregen. Mit Zimtsterne­n und heißem Tee in der Thermoskan­ne sorgt auch der für ordentlich Weihnachts­stimmung – anders, aber auch gut. (dpa)

„Und bei allem gilt: Es muss nicht perfekt sein, viel wichtiger ist das Miteinande­r.“Kinder- und Jugendlich­enpsychoth­erapeutin Katharina Schiersch

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