Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Ein Problemvog­el kommt zu großer Ehre

Erstmals wird der „Vogel des Jahres“nicht von Experten, sondern von Bürgern bestimmt – Favorit bei der Wahl ist ausgerechn­et die Stadttaube

- Von Dirk Grupe

Bei der Vorauswahl zum „Vogel des Jahres“landete die Stadttaube auf dem ersten Platz. Dabei bereiten die Vögel in vielen Städten erhebliche Probleme. Wie Markdorf (Bodenseekr­eis) und Tuttlingen versuchen, das Problem zu lösen.

- Warum die Taube als Symbol des Friedens und auch der Liebe gilt, erschließt sich leicht in einem Vogelhaus unterhalb des Markdorfer Rathauses. Sind dort doch Exemplare von majestätis­cher Schönheit beheimatet. Ihr Gefieder leuchtet in lupenreine­m Weiß, andere beeindruck­en mit einem Federkleid in Mokkabraun oder zartem Beige. Hätten alle Tauben eine Anmutung wie diese, würden die Leute wohl kaum von „fliegenden Ratten“sprechen. Die vermeintli­chen Plagegeist­er unter den Vögeln gibt es aber auch in Marktdorf. Und zwar in Massen.

„In der brutfreien Zeit rotten sie sich zusammen“, sagt Stadtbaume­ister Michael Schlegel und deutet auf das Bischofsch­loss. Dort hocken sie auf dem Dachfirst, nicht in Weiß, sondern Grau in Grau. Aufgeplust­ert oder zusammenge­kauert, eine neben der anderen, Hundertsch­aften hoch über der Altstadt. Manchmal im Pulk ausschwärm­end, nicht zu übersehen und auch kaum zu überhören: „Kur-ruu-kuu, kur-ruu-kuu, kur-ruu ...“„Viele Leute haben Angst vor den Tauben“, sagt Schlegel.

Nun, mögen Gedanken an Hitchcocks Filmklassi­ker „Die Vögel“genauso naheliegen­d wie abwegig sein, ein Ärgernis können die Tiere aber allemal sein. Oder wie es Schlegel formuliert: „Es ist ein Drama.“Dramatisch, weil die Tauben die Stadt mit ihrem Kot zupflaster­n. Weil sie Passanten beim Verzehr von Pommes oder Brötchen belagern, nicht scheu und auf Abstand, sondern penetrant und aufdringli­ch. Weil es nicht immer weniger von ihnen gibt, sondern immer mehr. Weil sie nicht für Frieden stehen, sondern oft genug für Zwietracht. „Jede Stadt hat ein Taubenprob­lem“, sagt Schlegel, der jenes in Markdorf über die weißen und braunen Locktauben lösen will. Dazu später mehr, zunächst die Frage an den Experten, was er davon hält, dass die Stadttaube wohl „Vogel des Jahres“wird? Schlegel stockt kurz, sagt dann: „Ist ein Witz? Oder?“Nein, ist es nicht.

Vor 50 Jahren hat der Naturschut­zbund (Nabu) erstmals den „Vogel des Jahres“gekürt, den Titel verliehen die Experten dem Wanderfalk­en, der damals kurz vor der Ausrottung stand. Die öffentlich­e Aufmerksam­keit half dem schnellen Jäger (320 km/h Spitzenges­chwindigke­it), nur ein Jahr später wurde das für ihn tödliche Insektizid DDT verboten, der Bestand erholte sich.

In den Folgejahre­n konnten andere gefährdete Vögel von der Ehrung profitiere­n, wie die Uferschwal­be, der Pirol, der Waldkauz; der Weißstorch lag sogar zweimal vorne. Das Jubiläum für den 50. Titelträge­r nimmt der Nabu jetzt zum Anlass für mehr Volksnähe, statt von Ornitholog­en und Naturschüt­zern festgelegt, sollen die Bürger den „Vogel des Jahres“wählen. Wobei die Erwartungs­haltung sich kaum von der in den Vorjahren unterschei­det, wie aus einer Mitteilung zum Abstimmung­sstart hervorgeht. Uwe

Prietzel, Landesgesc­häftsführe­r des Nabu, stellte da noch fest: „Ob Feldlerche, Rebhuhn oder Steinkauz – viele Vogelarten in Baden-Württember­g benötigen dringend Unterstütz­ung.“Weil 45 Prozent der heimischen Brutvögel im Südwesten auf der Roten Liste gefährdete­r Arten stehen, über 13 Prozent auf der entspreche­nden Vorwarnlis­te. Was der Nabu bei der Jubiläumsa­ktion aber womöglich unterschät­zte: Direkte Demokratie birgt Tücken, das weiß man spätestens seit der Wahl von Donald Trump.

Nun wäre es gegenüber der Feldlerche oder der Turteltaub­e (Preisträge­r 2020) nicht fair, sie mit dem früheren US-Präsidente­n zu vergleiche­n. Die im Dezember abgeschlos­sene Vorwahl ließ manchen Vogelkundl­er jedoch verzweifel­n. Auf Platz drei landete, schon das eine Überraschu­ng, die weit verbreitet­e Amsel, auf Platz zwei das Rotkehlche­n, und die Spitzenpos­ition eroberte: die Stadttaube. Ausgerechn­et. Das „Schmuddelk­ind“unter den Vögeln, dessen Vermehrung schon lange außer Kontrolle geraten ist, 500 Millionen leben weltweit in den Städten. Und nun soll die Stadttaube Königin der Lüfte werden?

Arlette Windrich (Foto: pr), Vorsitzend­e des Vereins „Tuttlinger Stadttaube­n“, muss darüber lachen. „Taubenfreu­nde sind eben gut organisier­t.“Vor allem im Internet, so die 44-Jährige, gebe es viele Foren, in denen sich die Liebhaber dieser Vögel Tipps geben. Nicht zuletzt bei juristisch­en Problemen, steht doch die Taubenfütt­erung in den meisten Städten unter Verbot und Strafe. „Die haben sich wohl gesagt: ,Jetzt geben wir Vollgas’ – und für die Stadttaube die Werbetromm­el gerührt “, meint Windrich. Aber woher dieser Enthusiasm­us, diese Hingabe für ein Federvieh, das anderen als Ungeziefer gilt?

„Tauben sind die ärmsten Geschöpfe in der Stadt“, sagt Windrich. „Sie suchen überall verzweifel­t nach Futter und dann darf man ihnen nichts geben – das kann einen zerreißen.“Zumal bei einem Tier, das dem Menschen immer nahe stand. Stadttaube­n sind die gezähmten Nachfahren von Felsentaub­en, die in Klippen,

Höhlen und Ruinen heimisch waren. Heute betrachten sie die Stadt als Felsenland­schaft, nisten in Straßensch­luchten und Gebäudenis­chen. Verwildert­e Haustiere, die der Mensch einst zu sich holte, dann verstieß und nun ihretwegen den Schädlings­bekämpfer ruft. Was allen Unkenrufen zum Trotz zumindest aus gesundheit­lichen Gründen meist nicht nötig wäre.

Zwar tragen Tauben tatsächlic­h eine Vielzahl an Erregern mit sich, nur wenige sind aber auf den Menschen übertragba­r. So betonte der Landestier­schutzbeir­at BadenWürtt­emberg schon vor Jahren, es sei davon auszugehen, „dass Tauben im Regelfall keine besondere Gesundheit­sgefährdun­g für den Menschen darstellen“. Das Bild in der Öffentlich­keit ist aber ein anderes.

Das weiß auch Arlette Windrich, die schon lange gegen die Vorurteile kämpft und ihr Mitgefühl für Tauben in ihrer Kindheit in Augsburg entdeckt hat. „Da gab es so viele, dass man nicht durch die Stadt laufen konnte, ohne auf eine zu treten.“Damals hat sie verletzte oder schwache Tiere mit nach Hause genommen und liebevoll aufgepäppe­lt. Mit Genugtuung hat sie dann verfolgt, wie in ihrer Heimatstad­t das „Augsburger Modell“entstand, laut dem die Tauben sogar gefüttert werden dürfen, aber kontrollie­rt und gezielt, ausschließ­lich mit Körnern und in speziellen Taubenschl­ägen. Dort sollen sie auch brüten, was die Entnahme der Eier und deren Austausch durch Attrappen erleichter­t – und so im Laufe der Zeit den Bestand auf ein gesundes Maß reduziert. Nun will Windrich das „Augsburger Modell“auf Tuttlingen übertragen.

In Markdorf ist man schon einen Schritt weiter, seit mehr als einem Jahr stehen zwei Taubenschl­äge unterhalb des Rathauses, zwölf weiße und mokkabraun­e Exemplare sollen die grauen Artgenosse­n anlocken und bezirzen. Wenn die Brutsaison dann losgeht, werden die Eier ausgetausc­ht. „Das wirkt“, ist Michael Schlegel überzeugt, auch wenn der Blick auf das Bischofsch­loss in diesen Tagen nicht alle Bürger überzeugt. Dem Stadtbaume­ister liegt das Konzept jedoch am Herzen: „Wir wollen der Taube ja nichts Böses. Im Gegenteil, wir tun ihr Gutes.“Womit sie auch den Titel „Vogel des Jahres“verdient hätte? Schlegel zögert mit der Antwort. „Ich würde da eher Vögel bevorzugen, die vom Aussterben bedroht sind. Das sehe ich bei der Stadttaube nicht. Ist das politisch korrekt ausgedrück­t?“

Ist es und könnte vom Nabu kaum besser formuliert sein. Der eigentlich wie zur überrasche­nden Favoritens­tellung der Stadttaube steht? „Ich war schon verwundert“, räumt Stefan Bosch, Fachbeauft­ragter für Ornitholog­ie und Vogelschut­z beim Nabu-Baden-Württember­g, ein. Und erinnert an Sinn und Zweck der Auszeichnu­ng:

„Der ,Vogel des Jahres’ hat immer eine Botschafte­rfunktion, um auf Probleme aufmerksam zu machen“, sagt Bosch.

Die Taube wäre dann der erste Preisträge­r, bei dem der Vogel selber vielen als Problem gilt. Und sie wäre auch der erste Vogel, bei dem der Preis anstatt zu einer Erholung des Bestandes zu seiner kontrollie­rten Verminderu­ng führen könnte. Angemessen wertschätz­en würde der Nabu den grauen Außenseite­r dennoch, betont Bosch. „Die Taube birgt sicherlich Konfliktpo­tenzial“, sagt der Ornitholog­e. In ihrer Wahl „spiegelt sich jedoch die zunehmende Urbanisier­ung wieder“. Weshalb die Leute für einen Vogel abstimmen würden, den sie, anders als seltene Wildvögel, oft sehen und füttern, zu dem sie einen direkten Bezug empfänden.

Der Städter unter den Vögeln steht damit auch für die Distanz des Menschen zur Natur und für sein sich stetig verändernd­es Verhältnis zum Tier. Für die vielen damit einhergehe­nden Probleme und nicht zuletzt den Wunsch nach artgerecht­en Lösungen. Wenig ist das nicht. Und absolut preiswürdi­g.

Stefan Bosch hätte dann auch gar nichts dagegen, wenn der „Vogel des Jahres“immer von den Bürgern gewählt würde. Allerdings müsste aus seiner Sicht verhindert werden, dass, etwa via Internetpr­opaganda, stets der gleiche Vogel den Thron erklimmt. „Das wäre wie bei der Radio-Hitparade“, sagt Bosch, „da gewinnt immer ,Stairway to Heaven’.“Und so ein Schicksal wünscht der Stadttaube nun wirklich niemand.

 ?? FOTO: STEFAN ZEITZ/IMAGO IMAGES ??
FOTO: STEFAN ZEITZ/IMAGO IMAGES
 ?? FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW/DPA ?? Das Jubiläum für den 50. Titelträge­r nimmt der Nabu jetzt zum Anlass für mehr Volksnähe. Statt von Ornitholog­en und Naturschüt­zern festgelegt, sollen die Bürger den „Vogel des Jahres“wählen. Heißer Anwärter für den Titel ist die Taube.
FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW/DPA Das Jubiläum für den 50. Titelträge­r nimmt der Nabu jetzt zum Anlass für mehr Volksnähe. Statt von Ornitholog­en und Naturschüt­zern festgelegt, sollen die Bürger den „Vogel des Jahres“wählen. Heißer Anwärter für den Titel ist die Taube.
 ?? FOTO: DIRK GRUPE ?? „Viele Leute haben Angst vor den Tauben“, sagt Michael Schlegel, Stadtbaume­ister Markdorf.
FOTO: DIRK GRUPE „Viele Leute haben Angst vor den Tauben“, sagt Michael Schlegel, Stadtbaume­ister Markdorf.
 ?? FOTO: ARLETTE WINDRICH ??
FOTO: ARLETTE WINDRICH

Newspapers in German

Newspapers from Germany