Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Zwischen Abwandern und Heimholen
Die Autoindustrie sieht Deutschland am Scheideweg – Branche kämpft mit vielen Problemen
BERLIN - Auf den ersten Blick klingt der Ausblick der Automobilindustrie auf das laufende Jahr prima. Beim Absatz in Deutschland rechnet der Verband der Automobilindustrie (VDA) mit einem Zuwachs von acht Prozent auf gut 3,2 Millionen verkaufte Neuwagen. Auch in anderen Ländern rechnet die Branche mit einem kräftigen Aufwärtstrend. Doch das ist nur ein Lichtblick nach dem tiefen Fall des vergangenen Jahres. „Die Rückgänge des Jahres 2020 werden nicht wettgemacht“, vermutet VDA-Chefin Hildegard Müller. Vor der Pandemie verkauften die Hersteller jährlich etwa 3,5 Millionen Neuwagen.
Obwohl die Autoindustrie in der Pandemie derzeit ohne Einschränkungen arbeiten kann, leidet sie auch unter der Corona-Krise. Erst im zweiten Halbjahr, wenn ein nennenswerter Teil der Bevölkerung geimpft ist, erwartet der Verband eine Besserung. Während die großen Hersteller finanziell gut gepolstert sind, kämpfen viele Zulieferer mit Liquiditätsproblemen. Die Hilfen seien nicht überall angekommen, stellt Müller fest.
Unabhängig von der aktuellen Krise sieht sie Deutschland am Scheideweg. „Dieses Jahr wird entscheidend sein“, sagt Müller. Die Warnung gilt der Politik in Berlin und Brüssel. Rund 150 Milliarden Euro investiere die deutsche Autoindustrie in Zukunftstechnologien, vor allem in Elektromobilität und Digitalisierung. Doch die Politik tut nach Ansicht des Verbands zu wenig, um den Standort für die Zukunft zu ertüchtigen. Für Ärger in der Branche sorgt die EU-Kommission. Die Mobilitätsstrategie der EU setze vor allem auf die E-Mobilität. Ein europaweites Ladenetz fehle jedoch. „75 Prozent der Ladeinfrastruktur finden wir aktuell in nur drei Staaten - Niederlande, Deutschland, Frankreich“, kritisiert Müller.
Auch die Klimaziele der EU, die eine Verschärfung der Verbrauchsgrenzwerte vorsehen, hält der Verband für überzogen. „Die Antwort auf Klimasorgen sind nicht immer neue Verbote und schon gar nicht der Verzicht auf Wachstum und Wohlstand“, sagt Müller. Vielmehr müssten sie mit technischen Innovationen erreicht werden. Daran arbeite die Automobilindustrie. Bei der Elektromobilität seien die deutschen Unternehmen führend. 47 Prozent der europäischen Patente dazu werden von hiesigen Firmen angemeldet.
Den Standort Deutschland hält der VDA allerdings für gefährdet, sollten sich die Rahmenbedingungen für die Industrie nicht ändern. Der VDA bemängelt zu hohe Arbeitskosten und zu hohe Steuern. Auch seien die Energiekosten die zweithöchsten in Europa. Nur in Großbritannien sei Energie noch teurer. Defizite gebe es auch beim schnellen Internet. Das BreitbandInternet sei schlechter als in Thailand oder Rumänien, klagt Müller. Dazu komme eine ausgeprägte Bürokratie und die fehlende Digitalisierung der Verwaltung. „Wenn der
Standort nicht besser wird“, warnt Müller, „wird die Industrie abwandern.“
Um dies zu verhindern, würde der VDA gerne eine andere Industriesparte heimholen nach Europa – nämlich die Produktion von Mikrochips. Diese sind heute aus modernen Fahrzeugen nicht mehr wegzudenken. In den Autos steuern die Halbleiter Klimaanlagen, kontrollieren den Reifendruck, verschieben Sitze im Innenraum oder sorgen bei Unfällen dafür, dass sich der Airbag auslöst. Mit dem steigenden Grad der Digitalisierung und Vernetzung von Autos steigt die Nachfrage nach Halbleitern seitens der Autobranche kontinuierlich.
Doch die Hersteller elektronischer Bauteile können derzeit nicht so viel liefern, wie nachgefragt wird. In den Autowerken, wie beispielsweise von Daimler und VW, fallen schon Schichten aus, weil das Material fehlt. Die Abhängigkeit von in
Asien beheimateten Produzenten der Mikrochips würde der VDA gerne durch eine eigene Produktion in Europa verringern, ähnlich wie es bei den Batterien für die E-Mobile allmählich auch in Angriff genommen wird. Doch zunächst ist bei diesem Problem keine Lösung in Sicht. Es wird daher wohl weiterhin in der Produktion zu Einschränkungen kommen.
Das Wort des Verbands der Automobilindustrie hat in der Politik Gewicht. Die Branche zeichnet für fast ein Viertel der Industrieleistung Deutschlands verantwortlich und stellt rund 800 000 Arbeitsplätze. Einige Tausend neuer Jobs kommen in diesem Jahr noch dazu, wenn Tesla seine Fabrik in der Nähe Berlins in Betrieb nimmt. Die Konkurrenz aus den USA begrüßt der VDA. Allerdings müssten andere Unternehmen bei Genehmigungsverfahren genauso gut unterstützt werden, mahnt Müller an.