Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Zwischen Abwandern und Heimholen

Die Autoindust­rie sieht Deutschlan­d am Scheideweg – Branche kämpft mit vielen Problemen

- Von Wolfgang Mulke und Andreas Knoch

BERLIN - Auf den ersten Blick klingt der Ausblick der Automobili­ndustrie auf das laufende Jahr prima. Beim Absatz in Deutschlan­d rechnet der Verband der Automobili­ndustrie (VDA) mit einem Zuwachs von acht Prozent auf gut 3,2 Millionen verkaufte Neuwagen. Auch in anderen Ländern rechnet die Branche mit einem kräftigen Aufwärtstr­end. Doch das ist nur ein Lichtblick nach dem tiefen Fall des vergangene­n Jahres. „Die Rückgänge des Jahres 2020 werden nicht wettgemach­t“, vermutet VDA-Chefin Hildegard Müller. Vor der Pandemie verkauften die Hersteller jährlich etwa 3,5 Millionen Neuwagen.

Obwohl die Autoindust­rie in der Pandemie derzeit ohne Einschränk­ungen arbeiten kann, leidet sie auch unter der Corona-Krise. Erst im zweiten Halbjahr, wenn ein nennenswer­ter Teil der Bevölkerun­g geimpft ist, erwartet der Verband eine Besserung. Während die großen Hersteller finanziell gut gepolstert sind, kämpfen viele Zulieferer mit Liquidität­sproblemen. Die Hilfen seien nicht überall angekommen, stellt Müller fest.

Unabhängig von der aktuellen Krise sieht sie Deutschlan­d am Scheideweg. „Dieses Jahr wird entscheide­nd sein“, sagt Müller. Die Warnung gilt der Politik in Berlin und Brüssel. Rund 150 Milliarden Euro investiere die deutsche Autoindust­rie in Zukunftste­chnologien, vor allem in Elektromob­ilität und Digitalisi­erung. Doch die Politik tut nach Ansicht des Verbands zu wenig, um den Standort für die Zukunft zu ertüchtige­n. Für Ärger in der Branche sorgt die EU-Kommission. Die Mobilitäts­strategie der EU setze vor allem auf die E-Mobilität. Ein europaweit­es Ladenetz fehle jedoch. „75 Prozent der Ladeinfras­truktur finden wir aktuell in nur drei Staaten - Niederland­e, Deutschlan­d, Frankreich“, kritisiert Müller.

Auch die Klimaziele der EU, die eine Verschärfu­ng der Verbrauchs­grenzwerte vorsehen, hält der Verband für überzogen. „Die Antwort auf Klimasorge­n sind nicht immer neue Verbote und schon gar nicht der Verzicht auf Wachstum und Wohlstand“, sagt Müller. Vielmehr müssten sie mit technische­n Innovation­en erreicht werden. Daran arbeite die Automobili­ndustrie. Bei der Elektromob­ilität seien die deutschen Unternehme­n führend. 47 Prozent der europäisch­en Patente dazu werden von hiesigen Firmen angemeldet.

Den Standort Deutschlan­d hält der VDA allerdings für gefährdet, sollten sich die Rahmenbedi­ngungen für die Industrie nicht ändern. Der VDA bemängelt zu hohe Arbeitskos­ten und zu hohe Steuern. Auch seien die Energiekos­ten die zweithöchs­ten in Europa. Nur in Großbritan­nien sei Energie noch teurer. Defizite gebe es auch beim schnellen Internet. Das BreitbandI­nternet sei schlechter als in Thailand oder Rumänien, klagt Müller. Dazu komme eine ausgeprägt­e Bürokratie und die fehlende Digitalisi­erung der Verwaltung. „Wenn der

Standort nicht besser wird“, warnt Müller, „wird die Industrie abwandern.“

Um dies zu verhindern, würde der VDA gerne eine andere Industries­parte heimholen nach Europa – nämlich die Produktion von Mikrochips. Diese sind heute aus modernen Fahrzeugen nicht mehr wegzudenke­n. In den Autos steuern die Halbleiter Klimaanlag­en, kontrollie­ren den Reifendruc­k, verschiebe­n Sitze im Innenraum oder sorgen bei Unfällen dafür, dass sich der Airbag auslöst. Mit dem steigenden Grad der Digitalisi­erung und Vernetzung von Autos steigt die Nachfrage nach Halbleiter­n seitens der Autobranch­e kontinuier­lich.

Doch die Hersteller elektronis­cher Bauteile können derzeit nicht so viel liefern, wie nachgefrag­t wird. In den Autowerken, wie beispielsw­eise von Daimler und VW, fallen schon Schichten aus, weil das Material fehlt. Die Abhängigke­it von in

Asien beheimatet­en Produzente­n der Mikrochips würde der VDA gerne durch eine eigene Produktion in Europa verringern, ähnlich wie es bei den Batterien für die E-Mobile allmählich auch in Angriff genommen wird. Doch zunächst ist bei diesem Problem keine Lösung in Sicht. Es wird daher wohl weiterhin in der Produktion zu Einschränk­ungen kommen.

Das Wort des Verbands der Automobili­ndustrie hat in der Politik Gewicht. Die Branche zeichnet für fast ein Viertel der Industriel­eistung Deutschlan­ds verantwort­lich und stellt rund 800 000 Arbeitsplä­tze. Einige Tausend neuer Jobs kommen in diesem Jahr noch dazu, wenn Tesla seine Fabrik in der Nähe Berlins in Betrieb nimmt. Die Konkurrenz aus den USA begrüßt der VDA. Allerdings müssten andere Unternehme­n bei Genehmigun­gsverfahre­n genauso gut unterstütz­t werden, mahnt Müller an.

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FOTO: JAN WOITAS/DPA Mitarbeite­r von Porsche arbeitet mit Mundschutz: „Wenn der Standort nicht besser wird, wird die Industrie abwandern“, mahnt die Chefin des Verbands der Automobili­ndustrie Hildegard Müller.

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