Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Der Dauerläufer
VfB-Kapitän Gonzalo Castro steht vor seinem 400. Bundesligaspiel – Weshalb seine Mutter die Karriere fast verhindert hätte
STUTTGART - Dirk Diekmann macht niemand etwas vor. Mehr als 40 Jahre hat er in der Nachwuchsabteilung der Fußballer von Bayer Leverkusen gearbeitet, hat Tausende Talente gesehen. Nur die wenigsten von ihnen haben es tatsächlich in den Profibereich geschafft. Daran, dass Gonzalo Castro einmal in der Bundesliga spielen wird, hatte der Rheinländer aber nie Zweifel. „Der Gonzo ist schon in der D-Jugend einer gewesen, der sich mühelos jedem höheren Niveau anpassen konnte“, sagte der Jugendtrainer einst über den heutigen Kapitän des VfB Stuttgart.
Als Castro bereits im Alter von 17 Jahren für Bayer in der Bundesliga debütierte, war Diekmann also sicher nicht sonderlich überrascht. Ob er aber daran geglaubt hat, dass es sein ehemaliger Schützling einmal auf 400 Spiele in Deutschlands höchster Klasse bringen wird, darf bezweifelt werden. Nicht einmal Castro selbst hat dies für möglich gehalten: „400 ist eine sehr schöne Zahl. Das hätte ich mir am Anfang meiner Karriere nie erträumt.“
Am Freitagabend, im Heimspiel der Stuttgarter gegen den FSV Mainz 05 (20.30 Uhr/DAZN), wird es aber aller Voraussicht nach soweit sein. Mit 400 Bundesligaspielen klettert der VfB-Kapitän dann auf Platz 68 der ewigen Bestenliste. In nur wenigen Wochen könnte er unter anderem Klaus Augenthaler (404 Bundesligaspiele) überholen, der den „Philipp Lahm von Bayer 04“als Trainer im Januar 2005 zu den Profis befördert und zum Rechtsverteidiger umgeschult hatte. Von den aktiven Spielern haben nur Welttorhüter Manuel Neuer (423) und der Ex-Stuttgarter Christian Genter (416) mehr Spiele in der Bundesliga bestritten. „Du musst sehr viel Glück haben, um so lange dabei zu sein“, sagt der 33-Jährige. „Der Körper muss mitspielen und du brauchst eine Familie und Freunde, die dich auch mittragen, wenn es mal nicht so läuft.“
Bei Gonzalo Castro passt offenbar beides – auch wenn seine Mutter eine Fußballkarriere beinahe verhindert hätte. „Ich musste seiner Mutter zusichern, dass er Trainingsverbot bekommt, wenn seine schulischen Leistungen nachlassen“, erzählte Michael Reschke, der Castro als Zwölfjährigen zunächst in die Jugend von Leverkusen und 2018 zum VfB geholt hatte, der Deutschen Presse-Agentur. „Wir hätten ja nie geglaubt, dass ich es mit 17 zu den Profis schaffe“, verteidigt Castro die Sorgen seiner Mutter – verrät aber mit einem Lächeln: „Mein Vater hatte den Vertrag schon unterschrieben, ohne dass es meine Mutter wusste. Am Ende haben wir es gut hinbekommen, ich mit meiner Schule, dass meine Mutter glücklich ist, und ich erfolgreich Fußball spielen konnte.“
Rückblickend kann man Papa Castro zu dieser Entscheidung nur gratulieren. Schließlich hat sein Sohn in den vergangenen 16 Jahren eine beeindruckend Karriere hingelegt. Mit Leverkusen und Borussia Dortmund lief er 84-mal in internationalen Wettbewerben (Champions und Europa League) auf, holte mit dem BVB 2017 den DFB-Pokal. „Das war eine der schönsten Erfahrungen, die ich machen durfte.“Doch es gab auch Rückschläge. 2019, in seiner ersten Saison beim VfB, stieg er direkt in die zweite Liga ab. Und obwohl der Mittelfeldspieler 2009 beim Sieg der Europameisterschaft zum festen Stamm der deutschen U21 gehörte, aus der sich später ein Großteil der Weltmeister-Mannschaft von 2014 rekrutierte, brachte es Gonzalo
Castro unter Joachim
Löw nur auf fünf Länderspiele in der A-Nationalmannschaft – wohl auch, weil er sich irgendwann dazu entschieden hat, lieber im zentralen Mittelfeld statt als Außenverteidiger aufzulaufen. „Natürlich ist das schade. Die Nationalmannschaft ist für jeden Fußballer das Ziel und ich hätte gerne noch ein großes Turnier gespielt. Aber ich habe trotzdem bislang eine schöne Karriere gehabt.“
Allein, dass es nie mit einem Wechsel in die spanische Primera División geklappt hat, ärgert den in Wuppertal geborenen Sohn spanischer Einwanderer heute noch ein wenig. „Fußballerisch hätte er auch das Potenzial gehabt, beim FC Barcelona zu spielen“, ist sein früherer Förderer Reschke überzeugt. Von Barça und Real habe er zwar nie ein Angebot erhalten, sagt Castro, wohl aber von Valencia, Betis und FC Sevilla. 2014 war das. Allerdings habe man finanziell nicht zusammengefunden, zudem habe er von anderen Fußballern erfahren, dass einige Vereine zu dieser Zeit bei den Gehaltszahlungen stark im Verzug waren. „Also habe ich mich entschieden hier zu bleiben. Und ich bin nicht unzufrieden.“
Mit dem VfB erlebt der 33-Jährige in dieser Saison eine Art zweiten Frühling. Auch wenn zuletzt die Ergebnisse nicht stimmten, ist der Aufsteiger eines der Überraschungsteams im Oberhaus – auch dank Gonzalo Castro, der als ältester Spieler vor der Saison von Trainer Pellegrino Matarazzo zum Kapitän berufen wurde. „Wir bewegen uns auf einem sehr guten Weg“, sagt der Dauerläufer, der seine Aufgabe darin sieht, die junge Mannschaft zu führen. „Wir haben viele talentierte Spieler, die zuhören und lernen wollen.“Castros Rat: „Auch wenn es eine Floskel ist: hart arbeiten und immer Vollgas geben. Dann wird man irgendwann belohnt.“
Dass der VfB und Castro so gut zusammenpassen, war nicht immer so. In der Stuttgarter Abstiegssaison 2018/2019 war der Zugang aus Dortmund nicht unumstritten und lief überwiegend mit statt vorne weg. Auch in der vergangenen ZweitligaSaison
machte kaum einer die Bundesliga-Rückkehr an dem Routinier und dessen Erfahrung fest. Doch seit dem Aufstieg ist Castro kaum wiederzuerkennen. Er führt das Team.
Am Ende der Saison läuft sein Vertrag bei den Schwaben aus. In den kommenden Wochen wolle er sich mit dem Club zusammensetzen und über eine Verlängerung sprechen. Druck verspüre er vor den Gesprächen nicht. „Ich bin noch nie so locker in Vertragsverhandlungen gegangen“, sagt er selbstbewusst. „Entscheidend ist ja auch, welche Pläne der Verein hat.“Ob in Stuttgart oder anderswo, ein Jahr möchte Castro mindestens noch dranhängen: „Ich bin noch nicht am Ende. Mein Körper fühlt sich noch zu gut an.“
Doch irgendwann wird auch dieser nicht mehr mitspielen. Und dann? Castro könnte sich gut vorstellen, dem Fußball verbunden zu bleiben, auch wenn er sich noch keine Gedanken über eine mögliche Funktion gemacht hat: „Trainer ist es, glaube ich, eher nicht, weil ich einfach nicht wieder den Stress haben will, mich 20 Jahre vor 20 Bekloppte hinzustellen und jedes mal erklären zu müssen, warum er nicht spielt, warum er nicht spielt.“
Fest steht nur, dass er nach seiner Spielerkarriere nach Leverkusen zurückkehren wird. Mit seiner Familie hat er dort ein Haus gebaut. Vermutlich wird er sich dann auch mal mit seinem Jugendtrainer Dirk Diekmann zusammensetzen und feststellen, dass Gonzalo Castro nicht nur ein Frühstarter, sondern auch ein Dauerbrenner war.
„Ich bin noch nicht am Ende. Mein Körper fühlt sich noch zu gut an.“
Gonzalo Castro denkt noch nicht an ein Karriereende