Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Schäuble und Strasser warnen vor neuem Rassismus

FDP-Extremismu­sexperte Benjamin Strasser über den Mord an CDU-Politiker Walter Lübcke und die Attacke auf eine Synagoge

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BERLIN (dpa/clak) - Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble hat vor neuen Formen von Rassismus und Antisemiti­smus gewarnt und die besondere Verantwort­ung für die Juden in Deutschlan­d betont. „Auch bei uns zeigen sich Antisemiti­smus und Fremdenfei­ndlichkeit wieder offen, hemmungslo­s, auch gewaltbere­it“, sagte Schäuble im Bundestag in der Gedenkstun­de für die Opfer des Nationalso­zialismus. Benjamin Strasser, Extremismu­sexperte der FDP aus Weingarten, sagte der „Schwäbisch­en Zeitung“: „Wir dürfen Antisemiti­smus jeglicher Couleur keinen Raum lassen.“Hierbei sei Zivilcoura­ge gefragt.

BERLIN - Im Sommer 2019 wurde der Kasseler Regierungs­präsident Walter Lübcke ermordet. Dringend tatverdäch­tig ist der Rechtsextr­emist Stephan E. – der Prozess gegen ihn vor dem hessischen Oberlandes­gericht (OLG) in Frankfurt am Main endet voraussich­tlich am Donnerstag. Der FDP-Bundestags­abgeordnet­e Benjamin Strasser ist Extremismu­sexperte seiner Fraktion. Er hat Claudia Kling erklärt, warum er die AfD mit in der Verantwort­ung für antisemiti­sche Anschläge sieht.

Heute wird im Lübcke-Prozess das Urteil über Stephan E. gesprochen. Sehen Sie in ihm einen Einzeltäte­r oder ist er Teil eines rechtsextr­emen Netzwerks?

Der Prozess um die Ermordung von Walter Lübcke hat ganz klar offengeleg­t, dass Stephan E. über Jahre, ja Jahrzehnte hinweg, tief eingebunde­n war in die rechtsextr­emistische Szene Deutschlan­ds, insbesonde­re Hessens. Er hatte, wie er selbst während des Prozesses einräumte, Kontakte zu Personen im Umfeld des sogenannte­n Nationalso­zialistisc­hen Untergrund­s (NSU), auch zu V-Leuten. Der Prozess beförderte auch Fotos einer rechten Sonnenwend­feier, an der Stephan E. teilgenomm­en hat, aus dem Jahr 2011 zutage. Das belegt, dass er mindestens zwei Jahre länger, als den Sicherheit­sbehörden bisher bekannt, in der rechtsextr­emen Szene aktiv war. Die Sicherheit­sbehörden haben die Gefahr, die von ihm ausging, schlicht falsch eingeschät­zt. Ein Schläfer war er wohl nie wirklich.

Aber in den vergangene­n Jahren hat Stephan E. doch ein weitgehend normales Leben geführt – mit Frau, Kindern, einem Job.

.Natürlich kann es auch bei Neonazis Brüche in ihrer Biografie geben. Es kann auch vorkommen, dass sie sich aus dem Aktivismus zurückzieh­en. Das heißt aber nicht, dass ihr Gedankengu­t weg ist. Von diesen Leuten, die so tief wie Stephan E. in der rechtsextr­emistische­n Szene drin waren und sich nie von Gewalt distanzier­t haben, geht immer eine Gefahr aus. Die müssen wir sehr viel intensiver, als es in der Vergangenh­eit der Fall war, auf dem Radar behalten.

Hätten Sie sich vor zehn Jahren vorstellen können, dass in Deutschlan­d gleichzeit­ig zwei Prozesse laufen – einer in Frankfurt wegen eines rechten Attentats auf einen Politiker und einer in Halle wegen eines antisemiti­schen Anschlags auf eine Synagoge?

Für viele in der Gesellscha­ft war das so nicht vorstellba­r. Aber der erste richtig tiefe Einschnitt im Bewusstsei­n der breiten Öffentlich­keit war bereits im Jahr 2011 die Selbstentt­arnung des NSU. Über zehn Jahre hinweg wurden zehn Menschen ermordet, ohne dass man auf die Idee kam, dass Rechtsterr­oristen die Verbrechen verübt haben könnten. Die

Blutspur des Rechtsterr­orismus ist aber länger. Das Oktoberfes­tattentat von 1980 war die feige Tat eines Rechtsextr­emisten und der bis heute schlimmste Anschlag mit den meisten Opfern in der Nachkriegs­geschichte. Die Geschichte lehrt uns, dass aus Worten allzu oft Taten werden. Die Lehre ziehen wir leider erst jetzt.

Nach dem Attentat auf Walter Lübcke wurden 2020 vier rechte Organisati­onen verboten. Hat dieser Mord Politiker und Sicherheit­sbehörden wachgerütt­elt?

Innenminis­ter Horst Seehofer hat gehandelt, indem er beispielsw­eise endlich die Organisati­on Combat 18 verboten hat. Combat 18 ist der bewaffnete Arm des rechtsextr­emen Netzwerks „Blood and Honour“, das auch Verbindung­en zum NSU hatte. Bei den Sicherheit­sbehörden wurden zudem neue Stellen versproche­n, wenngleich sie mit bestehende­n verrechnet werden. Und es wurden erste Schritte gemacht, um die Gefährdere­instufung im Rechtsextr­emismus zu verbessern. Aber all das, was nun passiert, hätte bereits nach den NSU-Morden passieren müssen. Dazu hätte es nicht den furchtbare­n Mord an Walter Lübcke gebraucht.

Was bringen Verbote von rechtsextr­emen Gruppierun­gen in der Praxis – und woran fehlt es?

Ein Verbot bringt etwas, um Strukturen zu zerschlage­n, um es Extremiszu­gänglichen ten schwerer zu machen, sich zu vernetzen und zu organisier­en. Aber ein Verbot ist auch kein Allheilmit­tel. Ich hätte mir gewünscht, dass Deutschlan­d die EU-Ratspräsid­entschaft nutzt, um europaweit ein Maßnahmenp­aket gegen Rechtsextr­emismus zu verabschie­den. Es wäre beispielsw­eise dringend geboten, Schießtrai­nings, die von deutschen Rechtsextr­emisten in den Niederland­en oder in Tschechien organisier­t werden, zu unterbinde­n. Oder „Blood-and-Honour“-Konzerte, die von Deutschlan­d nach Ungarn verlagert werden. Das ist eine europaweit­e Baustelle. Im Inneren haben wir nach wie vor ein Problem mit der mangelnden Analysefäh­igkeit der zuständige­n Sicherheit­sbehörden. Wenn man beispielsw­eise auf die Anschläge von Hanau und Halle schaut: Diese Täter haben sich auch im Internet radikalisi­ert, in öffentlich

Foren. Um solche Gefährder frühzeitig­er als jetzt zu erkennen, braucht es keine Staatstroj­aner und andere Überwachun­gsinstrume­nte. Die Sicherheit­sbehörden müssten nur genauer hinschauen, wo sie schon jetzt hinschauen können.

Sehen Sie einen Zusammenha­ng zwischen dem Einzug der AfD in die Parlamente und dem Ausmaß rechter Gewalt in Deutschlan­d?

Die AfD hat natürlich keine juristisch­e Mitverantw­ortung an den Anschlägen, aber eine moralische. Wenn wir sehen, dass sich der NSU in einer Phase radikalisi­ert hat, in der die Republikan­er einen Wahlsieg nach dem anderen eingefahre­n haben, verwundert es nicht wirklich, dass Anschläge wie in Hanau, Halle oder auf Walter Lübcke in einer Situation stattfinde­n, in der die AfD Stimmung gegen Minderheit­en in diesem Land macht. Das gesellscha­ftliche Klima beeinfluss­t solche Taten. Wenn sich die Grenze des Sagbaren immer weiter verschiebt, führt das dazu, dass die Terroriste­n aus Worten Taten machen. Wer dem entgegenwi­rken will, sollte das gesellscha­ftliche Klima nicht noch weiter anheizen.

Wie bewerten Sie die wohl anstehende Einstufung der Bundes-AfD als Verdachtsf­all?

Dies zu beurteilen, ist keine Entscheidu­ng von Politikern. Das ist eine fachliche Entscheidu­ng, die der Verfassung­sschutz auf Basis von Fakten unabhängig treffen muss. Aber wenn man die AfD von außen anschaut, kann man feststelle­n, dass sie sich in den drei Jahren ihrer Existenz im Bundestag eher radikalisi­ert als deradikali­siert hat. Auch in der AfD-Fraktion geben Rechtsextr­emisten den Ton an. Sie besetzen wichtige Führungspo­sitionen innerhalb der Partei. Im Gutachten des Verfassung­sschutzes dürften vermutlich gewichtige Beweise dafür stehen, dass die Gesamtpart­ei mittlerwei­le von Rechtsextr­emisten unterwande­rt wurde.

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FOTO: TOBIAS SCHWARZ/DPA Der Bundestag hat am Mittwoch der Opfer des Nationalso­zialismus gedacht. Angesichts antisemiti­scher Anschläge wie des Attentats auf eine Synagoge in Halle fordert der FDP-Politiker Benjamin Strasser mehr Aufmerksam­it der Sicherheit­sbehörden vor allem im Internet.
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FOTO: SCHEYER B. Strasser

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