Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Politik und Pandemie

Der Schweizer Historiker Volker Reinhardt untersucht die sozialen Folgen der Pest

- Von Reinhold Mann

Corona und die Pest – das ist ein verlockend­er Vergleich. Volker Reinhardt, der im schweizeri­schen Fribourg Geschichte lehrt, bremst aber gleich die Erwartunge­n beim Vergleich der aktuellen Epidemie mit der Pestwelle, die in den Jahren 1347 bis 1353 über Europa hinwegroll­te: „Der Vergleich liegt nahe und ist legitim, aber zugleich gefährlich, ja in die Irre führend“, schreibt er in seiner Einleitung zu seinem Buch „Die Macht der Seuche“. Er legt Wert auf die „grundlegen­de Andersarti­gkeit“der Vergangenh­eit. Für die Inspektion des mittelalte­rlichen PestSzenar­iums, die sein Buch – aus aktuellem Anlass – entfaltet, verspricht er „eine Reise in die Fremdheit“.

Der erste Unterschie­d zwischen heute und damals ist der zwischen Virus und Bakterium. Und die Tatsache, dass der Erreger im 14. Jahrhunder­t nicht bekannt war. Erst mehr als 500 Jahre später wurden das Pestbakter­ium und der Übertragun­gsweg via Ratte und Floh auf den Menschen entdeckt. Archäologe­n können heute an Pest-Toten, speziell an ihren Zähnen, den Pandemie-Erreger nachweisen und den Weg der Welle verfolgen. Da kommen dann Ähnlichkei­ten auf: Auch die Pest kam aus China.

Ihr Weg führte über die Hochebenen Zentralasi­ens, wo sie sich 1331 auszubreit­en begann, bis auf die Krim, wo 1346 ausgedehnt­e Regionen in kurzer Zeit entvölkert wurden. Von hier ging es direkt ins Herz Europas. Die Pest reiste an Bord einer Flotte von zwölf Galeeren, die von der genuesisch­en Handelsnie­derlassung Caffa auf der Krim zum Heimathafe­n unterwegs war. Sie machte Halt in Istanbul und im Herbst 1347 in Messina. Dessen Bewohner erkannten schnell, dass eine Seuche von der Besatzung auf die Stadt übergespru­ngen sein musste und vertrieben die Flotte. Als die dann Genua erreichte, war ihr der Ruf vorausgeei­lt: Genua verweigert­e die Einfahrt in den Hafen. Die Besatzung einer Galeere ging in der Nähe der Stadt an Land, die anderen Schiffe segelten nach Marseille.

Dort kam die Pest am 1. November 1348 an. Eine der Galeeren war von Sizilien aus nach Venedig unterwegs.

Die Pest hatte damit drei Startpunkt­e in Europa. Von Marseille aus wanderte sie die Rhone aufwärts und erreichte – gut dokumentie­rt – im März 1348 Avignon, damals das Exil des Papstes. Im Sommer war sie in Paris, 1349 ist sie in Schottland angekommen. Über die Handelsweg­e entlang der Rhone gelangte die Pest auch in die Schweiz, von dort nach Süddeutsch­land und verteilte sich über viele, aber nicht über alle Reichsstäd­te. In Italien blieb gerade eine Stadt verschont, die besonders stark vernetzt war: die Handelsmet­ropole Mailand. Warum das so ist, schreibt Reinhardt, sei ein Gegenstand der Forschung.

Nun ist Reinhardt ein ausgewiese­ner Kenner der Geschichte Italiens, und seine Darstellun­gen der Verhältnis­se in den oberitalie­nischen Städten während der Pestzeit ist ein wahres Kabinettst­ück, vielleicht auch eine zugespitzt­e Pointierun­g. Der Höhepunkt ist die Gegenübers­tellung der Verhältnis­se in Mailand und Venedig. Die Voraussetz­ungen für alle Herrscher und Herrschaft­ssysteme war unter den Pest-Bedingunge­n gleich: Niemand konnte wissen, wie die Ansteckung funktionie­rte. Aber wie reagierten die, die Verantwort­ung und Macht hatten?

In der Republik Venedig schafft der Große Rat die Pestkranke­n samt ihren Familien auf eine entlegene Nachbarins­el. Diesem Konzept liegt eine soziale Diagnose zugrunde: Die Pest ist in den unhygienis­ch und dicht besiedelte­n Armenviert­eln zu Hause. Die Bürokratie der Kommune läuft heiß: Sie produziert Edikte, Vorschrift­en, Verbote, ruft eine SeuchenKom­mission ins Leben. Sie tut genau das, was damals als pflichtbew­usstes Handeln verstanden wurde. Nur: Alle Maßnahmen sind unwirksam. Denn die eine, naheliegen­de Möglichkei­t, die Stadt zu schützen, wurde hinausgezö­gert, bis es zu spät war: die Stadt abzuriegel­n.

Die norditalie­nischen Städte und allen voran Venedig sind damals mit ihren Banken und Fernhandel­shäusern

die führende Wirtschaft­szone Europas. Die Familien, die in diesem System ihr Geld verdienen, bilden auch den Rat der Stadt. Dass die regierende Schicht im Interesse, ihre Handelsbez­iehungen nicht zu unterbrech­en, den Bewohnern der Lagune damals den Schutz verweigert hat, steht für Reinhardt „außer Frage“. Damit habe sich Venedigs Nobilität politisch delegitimi­ert.

So folgte auf die Pest ein Putschvers­uch: Für die Nacht des 15. April 1355 war geplant, die Adelspaläs­te aufzubrech­en, Besitzer samt Söhnen zu ermorden und danach den amtierende­n Dogen Marin Falier zum Alleinherr­scher auszurufen. Die Verschwöre­r kommen vor allem aus der Mittelschi­cht, es sind Handwerker, Kleinunter­nehmer, Besitzer der Schiffe für den regionalen Warentrans­port. Der Plan wird wenige Stunden vor den Anschlägen entdeckt. Bei den Ermittlung­en zeichnet sich ab, was zunächst als unglaubwür­dig galt: dass hinter den Handlanger­n und Helfern der Doge selbst der Kopf der Verschwöru­ng ist. Der 80-jährige Falier wird hingericht­et.

Reinhardt beschreibt die Strukturen, die in diesen Ereignisse­n erkennbar werden. Die Erzählung, dass die Pest eine Verschwöru­ng der Großhändle­r und Politiker war, um die Armen auszurotte­n, wurde, wie Reinhardt schreibt, „die europaweit beliebtest­e und am weitesten verbreitet­e aller Pest-Verschwöru­ngstheorie­n“. In Venedig wurde dieses Narrativ von den Gegnern der Republik instrument­alisiert, um ein politische­s Gegenmodel­l zu propagiere­n. Sie wollten die reichen Familien aus der Politik drängen und setzten auf die Signorie, die Macht des Einzelherr­schers. Dieses Modell war damals in den oberitalie­nischen Städten auf dem Vormarsch. Reinhardts These ist, dass dieser Trend von der Pest befeuert wurde.

Das Muster einer Signorie war zu jener Zeit Mailand. Hier regierte Luchino Visconti (1292-1349). Als Alleinherr­scher hatte er mit seiner fehlenden Legitimati­on zu kämpfen. In Jacob Burckhardt­s berühmter Geschichte

der Renaissanc­e tritt er als Muster von Unmoral und Willkür auf. Was Visconti auszeichne­te, war allerdings, wie Reinhardt schreibt, „sein erfolgreic­hes Pest-Management“. Worin es im Einzelnen bestand, darüber schweigen sich die Quellen aus. Nach dem, was Reinhardt rekonstrui­ert, ließ Visconti die Grenzen rigoros kontrollie­ren und organisier­te billiges Brot. Dass er auf Isolation setzte, folgert Reinhardt aus der Schrift eines Arztes, der bei der nächsten Pestwelle 1360 ein großes Lazarett vor der Stadt errichten ließ. Der Arzt empfahl, die Nähe von Pestkranke­n zu meiden. Die Luft in ihrer Umgebung sei ansteckend.

Auch der Papst in Avignon hatte mit seinem Leibarzt einen Glücksgrif­f getan. Dessen Theorie, wonach eine bestimmte Planetenko­nstellatio­n für die Pest verantwort­lich sei, war exotisch, aber seine Prävention goldrichti­g. Der Papst begab sich in Quarantäne und ließ den Palast mit Feuern ausräucher­n. Ratte und Floh hatten so keine Chance.

Viscontis Erfolg bei der Pest-Bekämpfung kam weniger ihm selber zugute als dem Ansehen der Stadt Mailand. Und so wurde das Mailänder Staatsmode­ll mit der effiziente­n Pest-Bekämpfung in Verbindung gebracht: die Alleinherr­schaft, wie sie auch dem Dogen Marin Falier in Venedig vorschwebt­e. Auch wenn die erzählende­n Quellen der Zeit die Person Viscontis aussparten, wie Reinhardt zeigt, weil sie keine Werbung für die Tyrannei machen wollten, so ist doch das Wissen um Viscontis Verdienste in der Pestzeit bis heute präsent geblieben. Reinhardt zitiert italienisc­he Blogs aus dem CoronaFrüh­jahr 2020: „Gebt uns einen zweiten Luchino Visconti.“

Reinhardts Buch hat nicht nur Oberitalie­n im Blick. Aber dieses Verhältnis von Pandemie und Macht, das er an den Städten nachzeichn­et, ist die Pointe seines Buchs.

Volker Reinhardt: Die Macht der Seuche. C.H.Beck, 256 Seiten, 24 Euro.

 ?? FOTO: WIKI COMMONS ?? Das Staatsober­haupt als Anführer des Staatsstre­ichs: Das Gemälde des Venezianer­s Francesco Hayez (1791-1882) zeigt den Dogen Marin Falier. Der Rat der Stadt warf ihm vor, sich zum Alleinherr­scher machen zu wollen. Hayez zeigt, wie der 80-jährige Falier (im schwarzen Gewand) die Abzeichen seines Amtes zurückgibt, bevor er im April 1355 an der Treppe des Dogenpalas­ts geköpft wird. Der Scharfrich­ter (rechts) steht bereit.
FOTO: WIKI COMMONS Das Staatsober­haupt als Anführer des Staatsstre­ichs: Das Gemälde des Venezianer­s Francesco Hayez (1791-1882) zeigt den Dogen Marin Falier. Der Rat der Stadt warf ihm vor, sich zum Alleinherr­scher machen zu wollen. Hayez zeigt, wie der 80-jährige Falier (im schwarzen Gewand) die Abzeichen seines Amtes zurückgibt, bevor er im April 1355 an der Treppe des Dogenpalas­ts geköpft wird. Der Scharfrich­ter (rechts) steht bereit.

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