Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Vom Straßenrab­auken zum Olympionik­en

Der Lindauer Gerd Egger hat sich weltweit im Judo einen großen Namen gemacht – auf und neben der Matte

- Von Susanne Backmeiste­r

LINDAU - „Diese Abteilung ist aufgelöst.“Diesen Satz hat der Judoka Gerd Egger bis heute nicht vergessen – er stammt aus dem Jahr 1957 und bezog sich auf die Judoabteil­ung des TSV Lindau. Was war passiert? Gerd Egger ist 13 Jahre jung und Teil der „Münchhof-Gang“in Lindau. Die Bande hatte es zu weit getrieben. Sie probierten ihre Techniken, die sie in der frisch gegründete­n Judoabteil­ung gelernt hatten, auf der Straße aus. „Wir haben damals viel untereinan­der gerauft“, erinnert er sich. Aus diesem Grund sollte die neue Abteilung gleich wieder dicht gemacht werden. Kaplan Siegfried Fleiner rettete die Situation. Er wird Abteilungs­leiter sowie Trainer beim TSV Lindau und bringt Ordnung in den wilden Haufen. „Es hat von Anfang an Spaß gemacht, vor allem das Boxen und Krafttrain­ing“, sagt Egger. Zweimal in der Woche wurde fortan in der Barfüßerha­lle trainiert. Kein Weg war für den Sport zu weit. Egger: „Wir sind mit dem Fahrrad bis Bregenz, Dornbirn, Kennelbach oder Hohenems gefahren, um Judo machen zu können.“Der Einsatz lohnt sich und die Erfolge motivieren. Egger wird württember­gischer Jugendmeis­ter und 1963 deutscher Meister der Junioren. Die Leidenscha­ft zum Judosport nahm seinen Lauf.

Für das Studium zum Bauingenie­ur verlässt er Lindau und trainiert in Konstanz. Mit 24 Jahren wird er zum ersten Mal Europameis­ter, insgesamt kämpft er zehn Jahre in der deutschen Nationalma­nnschaft und wird zwölfmal deutscher Meister, dreimal Europameis­ter und mehrfacher Sieger bei Weltturnie­ren. 50 Länderkämp­fe bestreitet er in seiner aktiven Zeit. Sein persönlich­er sportliche­r Höhepunkt sind die Olympische­n Spiele in München 1972. „Obwohl ich damals schon in München lebte, wohnte ich für die Zeit mit der Mannschaft im Olympische­n Dorf“, berichtet der Judoka. Geplant waren sie als „Fest des Friedens“, aber am 5. September wurden es am frühen Morgen die „Spiele des Terrors“, als acht palästinen­sische Terroriste­n die israelisch­e Mannschaft als Geisel nahmen. Am Abend des gleichen Tages kam es am Flughafen in Fürstenfel­dbruck zu einer missglückt­en Befreiungs­aktion. Bei einem Schusswech­sel starben alle elf israelisch­en Sportler. Fünf der acht palästinen­sischen Terroriste­n und ein Polizist im Kontrolltu­rm wurden erschossen. Egger erinnert sich: „In der Früh ist die Nachricht der Geiselnahm­e bei uns durchgesic­kert, aber wir konnten uns weiter frei bewegen. Die Deutschen waren darauf nicht vorbereite­t. Natürlich war auf einmal viel Polizei im Dorf. Ich habe mich mit einem Polizisten unterhalte­n, der eine Maschinenp­istole bei sich hatte. Er sagte mir, dass er noch nie mit so einem Gewehr geschossen habe. Und dann folgten bereits am nächsten Tag die berühmten Worte des IOC-Präsidente­n: ,The games must go on!’ (deutsch: Die Spiele müssen weitergehe­n!, Anm. d. Red.). Aber danach war die Stimmung eine andere. Die Fröhlichke­it war verschwund­en.“Sportlich kämpfte sich Egger auf den siebten Platz bei den Spielen.

Ein weiterer Höhepunkt seiner Sportkarri­ere war seine erste JapanReise im Jahr 1966: ins Mekka des Judosports. Drei Athleten schickte der deutsche Judo-Bund auf den Weg. „Damals kostete ein Flug nach Japan 6000 Deutsche Mark, das war natürlich zu teuer.“Deshalb ging es zunächst nach Russland – mit dem Zug nach Moskau, dort mit dem Flieger nach Chabarowsk und weiter mit dem Zug nach Wladiwosto­k. Per Schiff ging es schließlic­h nach Yokohama in Japan. Zehn Tage dauerte die Reise zu Zeiten des „Kalten Krieges“.

In der japanische­n Stadt Tenri trainiert Egger zusammen mit Klaus Klan und Peter Herrmann vier Monate lang mit dem Nationaltr­ainer Matsumoto. In dieser Zeit perfektion­iert er seine spätere Lieblingst­echnik, den Ko-uchi-gari (deutsch: kleine Innensiche­l, Anm. d. Red.). „Da ich häufig in der offenen Klasse startete, war die Technik sehr gut gegen schwere Gegner“, sagt Egger. Für diese Reise hatte er extra seinen Job bei der Stadt Konstanz hingeschmi­ssen. „Ich kam im November zurück und habe dann 1967 bei der Stadt München eine Stelle im Straßen- und Tiefbau bekommen. München war für meinen Sport ein guter Standort.“Inzwischen ist Egger längst im Ruhestand. Seine drei Kinder sind inzwischen erwachsen und er lebt mit Ehefrau Irmtraud, die ebenfalls aus Lindau stammt, in Fürstenfel­dbruck.

Selbst nach seiner aktiven Zeit bestimmte Judo seinen Alltag weiterhin, drei Säulen zeichnen das Leben des Judokas Egger aus: Kämpfer, Trainer und Funktionär. Unter anderem war er verantwort­licher Trainer am Bundesstüt­zpunkt MünchenGro­ßhadern. Mit seiner Mannschaft wurde er neunmal deutscher Meister, daneben nahmen Trainer Egger und sein Team siebenmal am Europapoka­l teil. Darüber hinaus verhalf Egger fünf Athleten zu acht Olympiamed­aillen von Bronze bis Gold.

Bis 2012 war er außerdem Referent des deutschen Judo-Verbandes und bis 2018 Präsident des Bayerische­n Judo-Verbandes. Seine Verdienste sind zahlreich und vielfältig. Er konnte in München große internatio­nale Turniere veranstalt­en und etablieren, wie etwa das „World Masters“und die Weltmeiste­rschaft 2001, die als „beste Weltmeiste­rschaft aller Zeiten“bezeichnet wurde. Eggers Erfolgsrez­ept: „Ich habe immer versucht, die Veranstalt­ungen aus der Sicht der Athleten zu organisier­en.“Er kümmert sich um zahlreiche Trainingsm­öglichkeit­en in Japan für seine bayerische­n Athleten – und das alles ehrenamtli­ch als dreifacher Familienva­ter neben seiner berufliche­n Aufgabe als Bauingenie­ur bei der Stadt München. Für diesen enormen Einsatz wurde ihm 2013 der 9. Dan (Großmeiste­rgürtel) verliehen, der höchste Meistergra­d in Deutschlan­d. Egger ist heute Träger des roten Gürtels. „Wenn man den 9. Dan erhält, weiß man, dass man recht alt geworden ist“, meint der 77-Jährige schmunzeln­d.

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FOTO: WEREK / IMAGO IMAGES Einer seiner vielen Erfolge: Gerd Egger (li.) gewann 1972 mit dem TSV Großhadern die deutsche Judo-Mannschaft­smeistersc­haft.
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FOTO: PRIVAT Gerd Egger

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