Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Lebenslange Haft für Lübckes Mörder
Richter sprechen Mitangeklagten in wichtigem Punkt frei – Familie vom Urteil enttäuscht
FRANKFURT (AFP/dpa) - Gut eineinhalb Jahre nach dem rechtsextremistisch motivierten Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) hat das Oberlandesgericht in Frankfurt den Täter zur höchstmöglichen Strafe verurteilt. Der Staatsschutzsenat des Gerichts verhängte am Donnerstag lebenslange Haft gegen den Angeklagten Stephan Ernst und stellte die besondere Schwere der Schuld fest. Damit ist eine Haftentlassung nach 15 Jahren so gut wie ausgeschlossen. Auch die Anordnung der Sicherungsverwahrung nach Verbüßung der Haft behielten sich die Richter für den 47jährigen Täter vor.
Bei der Tat handele es sich um einen heimtückischen Mord aus niedrigen Beweggründen, befand der Senat. Ernst sei einer „von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit getragenen völkisch-nationalistischen Grundhaltung“verhaftet, sagte der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel. Aufgrund eines Hangs zu Straftaten sei er für die Allgemeinheit gefährlich. Weitere Straftaten seien zu erwarten. Den Mitangeklagten Markus H. verurteilte das Frankfurter Oberlandesgericht zu eineinhalb Jahren Haft auf Bewährung wegen eines Verstoßes gegen das Waffengesetz. Vom Vorwurf der psychischen Beihilfe zum Mord an dem wegen seiner öffentlichen Äußerungen im Zuge der Flüchtlingskrise in rechten Kreisen angefeindeten Lübcke sprachen die Richter H. indes frei.
Die Familie des Ermordeten äußerte sich enttäuscht über das Urteil. Vor allem der Freispruch des Mitangeklagten Markus H. vom Vorwurf der Beihilfe sei für die Familie „nicht nachvollziehbar und schwer zu verkraften“, erklärte deren Sprecher Dirk Metz.
FRANKFURT (dpa) - Mit seinem Urteil hat der 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt viele Erwartungen an den Lübcke-Mordprozess erfüllt. Doch die weiteren Entscheidungen dürften manchen enttäuschen.
Völlige Stille am Ende eines besonderen, für manche Beteiligte gar historischen Prozesses: Als Thomas Sagebiel, der Vorsitzende Richter des 5. Strafsenats am Oberlandesgericht Frankfurt, die Höchststrafe für den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke verkündet, ist die Spannung im Gerichtssaal 165a geradezu greifbar. Kein Papierrascheln, kein Räuspern, kein Scharren mit den Füßen – und auch keine sichtbare Regung im Gesicht von Stephan Ernst. Lebenslange Haft wegen Mordes, unter Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Nicht wegen Totschlags, wie es seine Verteidiger noch in ihrem Schlussplädoyer zu erreichen versuchten. Eine Freilassung nach 15 Jahren ist auch bei guter Prognose und gutem Verhalten so gut wie ausgeschlossen.
Stephan Ernst hatte die Tat gestanden, Reue gezeigt, sich bei der Witwe und den Söhnen Lübckes entschuldigt. All das gelte als mildernd, sagte Sagebiel in der rund dreistündigen Urteilsbegründung. Doch diese Tat lasse wenig Spielraum. Noch einmal gingen die Richter ausführlich auf das rechtsextremistische Tatmotiv ein. Ernst habe seinen Fremdenhass auf Lübcke projiziert.
Dass er zu einer langen Haftstrafe verurteilt werden würde, muss Ernst klar gewesen sein. Als er kurz vor der Urteilsverkündung in den Saal geführt wurde, lehnte er zwischen seinen Anwälten an der Wand – und kurz sackten die Schultern des großen Mannes im schwarzen Anzug und dem weißen Hemd zusammen. Doch anders als während seines Geständnisses flossen keine Tränen. Blass und mit unbewegter Miene verfolgte er die Urteilsbegründung. Schon der psychiatrische Gutachter hatte gesagt, dass der 47-jährige Deutsche nicht zu äußerlichen Gefühlsregungen neige. Innerlich könne er aber sehr aufgewühlt sein.
In der Nacht zum 2. Juni 2019 hat Ernst den nordhessischen CDU-Politiker
Lübcke auf dessen Terrasse im Landkreis Kassel erschossen, das Gericht sieht das als erwiesen an. Das Motiv: Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit. Ernst störte sich an der liberalen Haltung Lübckes zur Flüchtlingspolitik. Der Politiker hatte die Aufnahme von Flüchtlingen 2015 bei einer Veranstaltung verteidigt, an der auch Ernst teilgenommen hatte.
Mit ernsten Gesichtern hatten die Nebenkläger um kurz vor 10 Uhr den
Gerichtssaal betreten: Irmgard Braun-Lübcke, die Witwe des ermordeten CDU-Politikers, und ihre beiden Söhne. Fast jeden Verhandlungstag hatten sie hier verbracht, den Blick fest auf die Angeklagten gerichtet. Diesmal blickten sie auch in den Zuschauerraum, als nähmen sie an diesem Tag erstmals das enorme öffentliche Interesse bewusst wahr. Auch aus ihrer Heimatregion waren Zuschauer gekommen, die Solidarität und Anteilnahme bekunden wollten. Schüler der Walter LübckeSchule in Wolfhagen hatten sich zu einer Mahnwache versammelt.
Doch die Angehörigen Lübckes waren wohl mit Hoffnungen in das Gericht gekommen, die das Urteil nun nicht erfüllte: Ihr Anwalt hatte in 30 Punkten zu begründen versucht, warum der wegen Beihilfe angeklagte Markus H. als Mittäter anzusehen sei. Doch die fünf Richter folgten weder dem Plädoyer der Nebenklage noch den Forderungen der Bundesanwaltschaft für H.: Im Anklagepunkt der Beihilfe gab es einen Freispruch, wegen eines Verstoßes gegen das Waffengesetz eine Bewährungsstrafe.
„Wir wissen, dass Ihr Verlust kaum zu ermessen ist“, sagte Sagebiel, an die Familie Lübcke gerichtet. Die Aufgabe des Gerichtes sei es aber gewesen, „ein faires Verfahren durchzuführen“. Und dabei hatte das Gericht zu viele Zweifel an den Angaben Ernsts zur Rolle von H., über seine angebliche Anwesenheit am Tatort. Ebenso hatte es Zweifel beim zweiten Anklagepunkt gegen Ernst wegen versuchten Mordes am irakischen Asylbewerber Ahmed I., der im Januar 2016 bei einem Messerangriff schwer verletzt wurde.
„Wir wissen, dass Sie durch die wohl ausländerfeindliche Tat schwer verletzt worden sind“, wandte sich Sagebiel an den jungen Iraker. „Es kann sein, dass Herr Ernst der Angreifer war – wir wissen es nicht.“Ähnlich wie beim Beihilfe-Vorwurf gegen Markus H. entschied das Gericht angesichts der Beweislage nach dem Rechtsgrundsatz „in dubio pro reo“– im Zweifel für den Angeklagten.
Wer den Prozess verfolgte, dürfte spätestens bei der Aufhebung der Untersuchungshaft für Markus H. mit der Entscheidung von Donnerstag gerechnet haben, auch die Nebenkläger. Doch vermutlich hatten sie bis zuletzt auf eine andere Einschätzung gehofft. Hinter Maske und Brille ließ sich nur schwer der Gesichtsausdruck von Irmgard LübckeBraun ablesen. Doch die Frau, die in den vergangenen Monaten viele mit ihrer aufrechten, gefassten Haltung beeindruckt hatte, saß immer wieder vornübergebeugt und mit gesenktem Kopf, als treffe das Gewicht, die Last des Verfahrens sie nun mit seiner ganzen Heftigkeit.