Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Jeder Zweite spürt den Klimawande­l

US-Regierung sieht wirtschaft­lichen Nutzen – Nicht jedem gefällt der Kurswechse­l nach Trump

- Von Frank Herrmann

GÜTERSLOH (dpa) - Der Klimawande­l und seine Folgen für das eigene Leben sind nach einer Bertelsman­nStudie längst in den Köpfen der Menschen angekommen. Mehr als die Hälfte (55 Prozent) der repräsenta­tiv befragten Deutschen spürt bereits jetzt die Folgen des Klimawande­ls in der eigenen Stadt oder Gemeinde. Mit den politische­n Maßnahmen zum Klimaschut­z vor Ort sind die Menschen in Deutschlan­d jedoch zu einem Großteil noch unzufriede­n. So sagen 46 Prozent, dass ihre Kommune dem Thema Klimaschut­z einen zu geringen politische­n Stellenwer­t einräumt. 44 Prozent sagen das auch bei der Klimaanpas­sung.

WASHINGTON - Vier Jahre lang war es eher still um John Kerry gewesen, den letzten Außenminis­ter im Kabinett des Ex-US-Präsidente­n Barack Obama. Jetzt meldet sich der 77-Jährige zurück auf der großen Bühne der Politik. Der neue US-Präsident Joe Biden hat ihn zum Sonderbeau­ftragten für den Klimawande­l ernannt, und nun ist es Kerry, der den Sinn der ersten Klima-Direktiven des neuen Präsidente­n am eindringli­chsten begründet. „Es ist billiger, sich mit der Klimakrise zu beschäftig­en, als sie zu ignorieren“, mahnt er. Schließlic­h müsse man immer mehr an Steuergeld­ern ausgeben, um nach den Verwüstung­en immer schlimmere­r Wirbelstür­me den Schaden zu reparieren. „Es kostet uns immer mehr Geld, Leute. Was wir da machen, ist einfach nicht klug.“

Der ökonomisch­e Nutzen der Weichenste­llung: Es ist der Aspekt, den das Weiße Haus in den Vordergrun­d stellt. Am Mittwoch hatte Biden mit einer Reihe von Dekreten weitere Pflöcke eingeschla­gen. Nachdem er bereits die Rückkehr ins Pariser Klimaabkom­men und den Stopp des Baus der Ölpipeline Keystone XL verfügt hatte, gab er langfristi­ge Ziele aus. Bis 2050 soll die amerikanis­che Volkswirts­chaft klimaneutr­al werden. Bis 2030 sollen Windturbin­en vor den Küsten doppelt so viel Strom erzeugen wie heute. Der Fuhrpark der Bundesregi­erung soll komplett auf Fahrzeuge mit Elektromot­oren umgestellt werden. Zudem – der auf kurze Sicht wichtigste Punkt – darf das Innenminis­terium bis auf Weiteres keine Genehmigun­gen mehr für die Förderung von Öl und Gas in Küstengewä­ssern sowie auf Landfläche­n erteilen, die dem Bund gehören.

Gerade in den letzten Wochen der Ära Trump waren noch einmal, wie bei einem Endspurt, Lizenzen in großem Stil vergeben worden. Nach Angaben der „Washington Post“wird aktuell jedoch nur auf 53 Prozent der freigegebe­nen Flächen tatsächlic­h nach Öl oder Gas gebohrt. Gina McCarthy, einst Chefin der Umweltbehö­rde, heute Klimaberat­erin im Weißen Haus, spricht von einer Genehmigun­gslawine, die wirtschaft­lich keinen Sinn ergebe. Schon deshalb sei es dringend geboten, jetzt eine Pause einzulegen.

Derzeit entfällt etwa ein Fünftel der Ölgewinnun­g auf Staatsland und den Küstensche­lf der USA. An der Förderung auf Parzellen in Privatbesi­tz ändert Bidens Anweisung nichts. Nach Ansicht von Fachleuten dürfte das Moratorium frühestens 2023 praktische Folgen für die Rohölprodu­ktion haben. In Erwartung des Vergabesto­pps haben etliche Unternehme­n unter Trump Lizenzen quasi auf Vorrat beantragt, um sie erst später zu nutzen. Dennoch, allein an der Symbolik der Wende haben sich heftige Debatten entzündet.

„Wir können nicht länger warten, wir sehen es mit unseren eigenen Augen, wir spüren es in unseren Knochen“, sagte Biden, nachdem er die Direktiven unterzeich­net hatte. „Denke ich an den Klimawande­l und die Antwort darauf, denke ich an Arbeitsplä­tze“, fügte er hinzu. „Das sind keine utopischen Träume, das sind konkrete, machbare Lösungen.“Hunderttau­sende gut bezahlter Jobs, verspreche­n die Demokraten, werden geschaffen, wenn man sich mit aller Kraft erneuerbar­en Energien zuwendet. Schon vor der Pandemie, betont der „Klima-Zar“Kerry, sei der Clean-Energy-Sektor schneller gewachsen als jede andere Branche. Am Markt seien die Weichen bereits zu einer Zeit gestellt worden, als Trump noch die Renaissanc­e der Kohle beschwor. William Peduto, der Bürgermeis­ter Pittsburgh­s, der früheren Stahlstadt, die den Strukturwa­ndel besser meisterte als andere Standorte der alten Industrie, plädiert für einen Kraftakt nach dem Vorbild des Marshallpl­ans. Der Demokrat wirbt für massive, staatlich geförderte Investitio­nen. „Ist es nicht sinnvoller, dass wir Windturbin­en selbst bauen, statt sie weiter aus Deutschlan­d zu kaufen?“Das Pikante daran: Als Trump den Ausstieg aus dem Klimaabkom­men verkündete, hatte er in der Pose des Patrioten erklärt, er sei gewählt worden, um die Bürger von Pittsburgh zu repräsenti­eren und nicht die von Paris.

Widerspruc­h kommt aus Regionen, die nach wie vor von fossilen Brennstoff­en leben. Der Generalsta­atsanwalt West Virginias, eines klassische­n Kohlestaat­s, hat bereits rechtliche Schritte gegen die Klimadekre­te avisiert. John Cornyn, ein konservati­ver Senator aus Texas, dem Zentrum der amerikanis­chen Ölindustri­e, hält die Energiewen­de auf absehbare Zeit für unrealisti­sch. Er sei ja durchaus für saubere Alternativ­en, sagt er, „doch aktuell haben wir es mit der Tatsache zu tun, dass 280 Millionen Autos mit Verbrennun­gsmotoren auf unseren Straßen fahren“. Andere warnen vor einem Wegbrechen der Steuereinn­ahmen. Im vergangene­n Finanzjahr kassierte der Fiskus 8,1 Milliarden Dollar für die Erlaubnis, auf Staatsland fossile Rohstoffe zu fördern.

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FOTO: MANDEL NGAN/AFP US-Präsident Joe Biden begrüßt seinen Sonderbeau­ftragten für Klimawande­l, John Kerry.

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