Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

David-und-Goliath-Drama an der Wall Street

Kleinanleg­er bezwingen zwei US-Hedgefonds, die auf die Pleite der Ladenkette Gamestop gewettet hatten

- Von Finn Mayer-Kuckuk und Andreas Knoch

BERLIN - Die Macht der Wall Street ist noch nicht grenzenlos: Videospiel-Enthusiast­en rund um den Globus haben sich zusammenge­tan, um als Kleinanleg­er Spekulatio­nen gegen die angeschlag­ene US-Ladenkette Gamestop zu sabotieren. Ihre Gegenreakt­ion wirkt nun so durchschla­gend, dass sie Unternehme­n der New Yorker Börse in den Ruin treibt.

Es gibt Finanzfirm­en, sogenannte Hedgefonds, die sich mit Vorliebe auf die schwächste­n Wirtschaft­sakteure stürzen. Sie identifizi­eren Firmen, die vor Problemen stehen, und wetten mit sogenannte­n Leerverkäu­fen darauf, dass deren Kurse fallen. Sie durchforst­en Bilanzen und analysiere­n Trends, um mögliche Opfer zu identifizi­eren. Die Manager solcher Fonds reklamiere­n dabei eine positive Rolle für sich selbst – indem sie Schwächen aufzeigen, machen sie das Wirtschaft­ssystem nach eigener Auffassung effiziente­r.

Nun hatten Gamer im weltumspan­nenden Onlineforu­m Reddit Anfang des Jahres Wind davon bekommen, dass zwei große Finanzinst­itute sich das Unternehme­n Gamestop für diese profitable Marktberei­nigung vorgenomme­n haben. Die beiden New Yorker Fonds, Melvin Capital und Citron Research, prognostiz­ierten schlechte Aussichten für stationäre Läden, die Computersp­iele verkaufen. Moderne Spielkonso­len kommen zum Teil schon ohne ein Laufwerk aus. Die Spielebran­che stellt sich mehr und mehr auf einen rein virtuellen Vertrieb im Netz um, weil das für sie einfacher ist. Es sind zudem schon Abomodelle für Spiele nach Vorbild von Netflix in der Entwicklun­g. Die Corona-Krise hat die Konsumente­n zusätzlich zu Onlinekund­en umerzogen. Eine börsennoti­erte Gesellscha­ft mit so schlechten Zukunftsau­ssichten – das wäre ein gefundenes Fressen für Leerverkäu­fer.

Doch die Reddit-Gemeinde war dagegen. Viele Videospiel­er mögen Gamestop. Das Personal in den Filialen spielt selbst gerne und ist für einen Plausch offen, zudem dienen die Läden als Tauschbörs­e für gebrauchte Spiele. In Einkaufsze­ntren sind sie Anlaufstel­le zum Abhängen für Gamer. Auf Reddit ergab sich nun ein Austausch zwischen dem Forum Wall Street Bets, in dem es um Leerverkäu­fe

und Finanzgesc­häfte geht, und der Spielergem­einde. Die überwiegen­d jungen Leute sprachen sich ab, die Gamestop-Aktie zu kaufen. „Ich habe alle meine Ersparniss­e in Gamestop investiert und muss meine Miete daher in diesem Monat auf Pump mit Kreditkart­e bezahlen“, schreibt der Nutzer „ssauronn“.

Die Gegenreakt­ion gegen die Hedgefonds hat dabei auch eine politische Komponente: einen tief sitzenden Zorn auf die amerikanis­che Finanzindu­strie. „Als die Krise von 2008 das Land schüttelte, war ich ein junger Teenager“, schreibt „ssauron“. Er sei es leid, dass Finanzfirm­en sich auf Kosten der Gemeinscha­ft bereichern, ohne selbst Verantwort­ung zu übernehmen. Seine Familie sei damals schwer betroffen gewesen. Jetzt sei die Zeit gekommen, sich nicht nur herumschub­sen zu lassen. „An Melvin Capital: Ihr steht für alles, was ich daran hasse!“

Die vielen kleinen Kaufaufträ­ge haben den Gamestop-Kurs spektakulä­r hochgetrie­ben. Nachdem sich die Kunde von der Aktion verbreitet­e, sprangen immer mehr Kleinanleg­er auf den Zug auf. Auf Videoseite­n für

Spieler wie Twitch tauchten Anleitunge­n zum Aktienhand­el für Anfänger auf. Die Bewertung der angeschlag­enen Kette von 5500 Läden übersteigt inzwischen zehn Milliarden Dollar. Melvin Capital musste so gewaltige Leerverkau­fsposition­en wieder eindecken, dass der vermeintli­ch reiche Fonds mit 2,75 Milliarden Dollar gestützt werden musste, um zu überleben.

Für Hedgefonds steht bei ihren Leerverkau­fsspekulat­ionen einem hohen Gewinnpote­nzial ein unbegrenzt­es Verlustpot­enzial gegenüber – und zwar dann, wenn ihre Wetten schieflauf­en. Prinzipiel­l laufen diese Wetten so ab: Der Leerverkäu­fer leiht sich zunächst ein großes Paket der Anteilssch­eine bei einem institutio­nellen Investor, beispielsw­eise einem Aktienfond­s oder einer Versicheru­ng. Der erhält dafür eine Gebühr und ist nicht weiter beteiligt. Der Leerverkäu­fer verkauft dieses Aktienpake­t nun regulär am Markt und nimmt dafür Geld ein. Zu einem festgelegt­en Zeitpunkt in der Zukunft kauft er genau die gleiche Stückzahl an Aktien wieder zurück. Wenn der Kurs des Papiers inzwischen wie erwartet gefallen ist, muss er dafür weniger Geld bezahlen, als er zuvor beim Verkauf eingenomme­n hat. Wenn er zunächst 100 Millionen Euro eingenomme­n hat und der Kurs sich in der Laufzeit des Geschäfts halbiert, bleiben ihm fast 50 Millionen Euro Gewinn. Denn der Einsatz zu Beginn war minimal, schließlic­h waren die Aktien nur geliehen.

Diesem irren Gewinnpote­nzial steht aber ein noch viel höheres Risiko gegenüber. Wenn der Kurs nämlich steigt, statt zu fallen, muss der Leerverkäu­fer die Aktien spätestens zum festgelegt­en Termin trotzdem zurückkauf­en. Er muss dabei mehr zahlen, als er bei seinem Verkauf eingenomme­n hat, denn der Leihgeber erwartet die Aktien pünktlich zurück. Während der Kurs aber nur maximal auf null fallen kann, ist die Möglichkei­t zum Anstieg nach oben offen. Verdreifac­ht sich der Kurs, entsteht bei einem anfänglich­en Aktienwert von 100 Millionen Euro ein Verlust von 200 Millionen Euro.

Der Kurs von Gamestop ist nun seit seinem Tief von 2,57 Dollar im vergangene­n Jahr in der Spitze um mehr als das 160-Fache auf weit über 400 Dollar gestiegen. Der besonders steile Anstieg lag auch und gerade an den Praktiken der Leerverkäu­fer. Sie müssen die Aktienpake­te schließlic­h vom Markt zurückkauf­en, um das Geschäft abzuschlie­ßen – auch wenn der Kurs schon unnatürlic­h hoch steht. Damit treiben sie mit Milliarden­mitteln aus ihren Kassen den Kurs weiter nach oben. Im Fachjargon wird das Phänomen Short Squeeze genannt – die Leerverkäu­fer (shorts) werden ausgepress­t (squeeze).

Nach Angaben des US-Nachrichte­nsenders CNBC hat der Hedgefonds Melvin Capital seine Leerverkau­fsposition in Gamestop-Aktien am Dienstag glattgeste­llt und dabei einen „riesigen Verlust“eingefahre­n, Citron Research habe per Mittwoch den größten Teil seiner GamestopWe­tte zurückgeka­uft – ebenfalls mit Verlusten. Citron-Research-Chef Andrew Left nannte die gegen ihn spekuliere­nden Kleinanleg­er jüngst einen „wütenden Mob“.

Inzwischen stürzen sich Gegenspeku­lanten weltweit auf Aktien, von denen bekannt ist, dass sie gerade die Zielobjekt­e von Leerverkäu­fern sind – neben Gamestop etwa auf die angeschlag­ene US-Kinokette AMC – und bringen die Märkte in Aufruhr. Sowohl die US-Regierung als auch die US-Börsenaufs­icht SEC haben die Kursturbul­enzen mittlerwei­le im Blick.

Der Chef der Wertpapier­aufsichtsb­ehörde in Massachuse­tts, William Galvin, sieht darin sogar eine größere Bedrohung für den USAktienma­rkt und kritisiert vor allem die Hedgefonds, die über komplizier­te Praktiken mehr als 100 Prozent der ausstehend­en Gamestop-Aktien leerverkau­ft hatten. „Der Marktplatz sollte ein Ort sein, an dem Risiken eingegange­n werden, aber keine rücksichts­losen Risiken und keine Situation, die das System untergräbt, und genau darum geht es hier“, sagte Galvin der Zeitung „The Exchange“. Die Größe der Leerverkau­fsposition in Gamestop-Aktien schaffe strukturel­le Risiken und „muss sofort angegangen werden“.

Galvin sprach sich dafür aus, den Handel in Gamestop-Aktien für 30 Tage auszusetze­n, um die Gemüter zu beruhigen. Am Donnerstag kündigten einige unter Kleinanleg­ern besonders beliebte Onlinebrok­er an, den Handel mit Gamestop-Aktien zu limitieren.

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FOTO: MICHAEL M. SANTIAGO/AFP Filiale der Kette Gamestop in New York City: Fans des Unternehme­ns haben sich verabredet, um die Computersp­ielläden zu retten und die angreifend­en Hedgefonds der Wall Street zurückzusc­hlagen – mit Erfolg.

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