Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
David-und-Goliath-Drama an der Wall Street
Kleinanleger bezwingen zwei US-Hedgefonds, die auf die Pleite der Ladenkette Gamestop gewettet hatten
BERLIN - Die Macht der Wall Street ist noch nicht grenzenlos: Videospiel-Enthusiasten rund um den Globus haben sich zusammengetan, um als Kleinanleger Spekulationen gegen die angeschlagene US-Ladenkette Gamestop zu sabotieren. Ihre Gegenreaktion wirkt nun so durchschlagend, dass sie Unternehmen der New Yorker Börse in den Ruin treibt.
Es gibt Finanzfirmen, sogenannte Hedgefonds, die sich mit Vorliebe auf die schwächsten Wirtschaftsakteure stürzen. Sie identifizieren Firmen, die vor Problemen stehen, und wetten mit sogenannten Leerverkäufen darauf, dass deren Kurse fallen. Sie durchforsten Bilanzen und analysieren Trends, um mögliche Opfer zu identifizieren. Die Manager solcher Fonds reklamieren dabei eine positive Rolle für sich selbst – indem sie Schwächen aufzeigen, machen sie das Wirtschaftssystem nach eigener Auffassung effizienter.
Nun hatten Gamer im weltumspannenden Onlineforum Reddit Anfang des Jahres Wind davon bekommen, dass zwei große Finanzinstitute sich das Unternehmen Gamestop für diese profitable Marktbereinigung vorgenommen haben. Die beiden New Yorker Fonds, Melvin Capital und Citron Research, prognostizierten schlechte Aussichten für stationäre Läden, die Computerspiele verkaufen. Moderne Spielkonsolen kommen zum Teil schon ohne ein Laufwerk aus. Die Spielebranche stellt sich mehr und mehr auf einen rein virtuellen Vertrieb im Netz um, weil das für sie einfacher ist. Es sind zudem schon Abomodelle für Spiele nach Vorbild von Netflix in der Entwicklung. Die Corona-Krise hat die Konsumenten zusätzlich zu Onlinekunden umerzogen. Eine börsennotierte Gesellschaft mit so schlechten Zukunftsaussichten – das wäre ein gefundenes Fressen für Leerverkäufer.
Doch die Reddit-Gemeinde war dagegen. Viele Videospieler mögen Gamestop. Das Personal in den Filialen spielt selbst gerne und ist für einen Plausch offen, zudem dienen die Läden als Tauschbörse für gebrauchte Spiele. In Einkaufszentren sind sie Anlaufstelle zum Abhängen für Gamer. Auf Reddit ergab sich nun ein Austausch zwischen dem Forum Wall Street Bets, in dem es um Leerverkäufe
und Finanzgeschäfte geht, und der Spielergemeinde. Die überwiegend jungen Leute sprachen sich ab, die Gamestop-Aktie zu kaufen. „Ich habe alle meine Ersparnisse in Gamestop investiert und muss meine Miete daher in diesem Monat auf Pump mit Kreditkarte bezahlen“, schreibt der Nutzer „ssauronn“.
Die Gegenreaktion gegen die Hedgefonds hat dabei auch eine politische Komponente: einen tief sitzenden Zorn auf die amerikanische Finanzindustrie. „Als die Krise von 2008 das Land schüttelte, war ich ein junger Teenager“, schreibt „ssauron“. Er sei es leid, dass Finanzfirmen sich auf Kosten der Gemeinschaft bereichern, ohne selbst Verantwortung zu übernehmen. Seine Familie sei damals schwer betroffen gewesen. Jetzt sei die Zeit gekommen, sich nicht nur herumschubsen zu lassen. „An Melvin Capital: Ihr steht für alles, was ich daran hasse!“
Die vielen kleinen Kaufaufträge haben den Gamestop-Kurs spektakulär hochgetrieben. Nachdem sich die Kunde von der Aktion verbreitete, sprangen immer mehr Kleinanleger auf den Zug auf. Auf Videoseiten für
Spieler wie Twitch tauchten Anleitungen zum Aktienhandel für Anfänger auf. Die Bewertung der angeschlagenen Kette von 5500 Läden übersteigt inzwischen zehn Milliarden Dollar. Melvin Capital musste so gewaltige Leerverkaufspositionen wieder eindecken, dass der vermeintlich reiche Fonds mit 2,75 Milliarden Dollar gestützt werden musste, um zu überleben.
Für Hedgefonds steht bei ihren Leerverkaufsspekulationen einem hohen Gewinnpotenzial ein unbegrenztes Verlustpotenzial gegenüber – und zwar dann, wenn ihre Wetten schieflaufen. Prinzipiell laufen diese Wetten so ab: Der Leerverkäufer leiht sich zunächst ein großes Paket der Anteilsscheine bei einem institutionellen Investor, beispielsweise einem Aktienfonds oder einer Versicherung. Der erhält dafür eine Gebühr und ist nicht weiter beteiligt. Der Leerverkäufer verkauft dieses Aktienpaket nun regulär am Markt und nimmt dafür Geld ein. Zu einem festgelegten Zeitpunkt in der Zukunft kauft er genau die gleiche Stückzahl an Aktien wieder zurück. Wenn der Kurs des Papiers inzwischen wie erwartet gefallen ist, muss er dafür weniger Geld bezahlen, als er zuvor beim Verkauf eingenommen hat. Wenn er zunächst 100 Millionen Euro eingenommen hat und der Kurs sich in der Laufzeit des Geschäfts halbiert, bleiben ihm fast 50 Millionen Euro Gewinn. Denn der Einsatz zu Beginn war minimal, schließlich waren die Aktien nur geliehen.
Diesem irren Gewinnpotenzial steht aber ein noch viel höheres Risiko gegenüber. Wenn der Kurs nämlich steigt, statt zu fallen, muss der Leerverkäufer die Aktien spätestens zum festgelegten Termin trotzdem zurückkaufen. Er muss dabei mehr zahlen, als er bei seinem Verkauf eingenommen hat, denn der Leihgeber erwartet die Aktien pünktlich zurück. Während der Kurs aber nur maximal auf null fallen kann, ist die Möglichkeit zum Anstieg nach oben offen. Verdreifacht sich der Kurs, entsteht bei einem anfänglichen Aktienwert von 100 Millionen Euro ein Verlust von 200 Millionen Euro.
Der Kurs von Gamestop ist nun seit seinem Tief von 2,57 Dollar im vergangenen Jahr in der Spitze um mehr als das 160-Fache auf weit über 400 Dollar gestiegen. Der besonders steile Anstieg lag auch und gerade an den Praktiken der Leerverkäufer. Sie müssen die Aktienpakete schließlich vom Markt zurückkaufen, um das Geschäft abzuschließen – auch wenn der Kurs schon unnatürlich hoch steht. Damit treiben sie mit Milliardenmitteln aus ihren Kassen den Kurs weiter nach oben. Im Fachjargon wird das Phänomen Short Squeeze genannt – die Leerverkäufer (shorts) werden ausgepresst (squeeze).
Nach Angaben des US-Nachrichtensenders CNBC hat der Hedgefonds Melvin Capital seine Leerverkaufsposition in Gamestop-Aktien am Dienstag glattgestellt und dabei einen „riesigen Verlust“eingefahren, Citron Research habe per Mittwoch den größten Teil seiner GamestopWette zurückgekauft – ebenfalls mit Verlusten. Citron-Research-Chef Andrew Left nannte die gegen ihn spekulierenden Kleinanleger jüngst einen „wütenden Mob“.
Inzwischen stürzen sich Gegenspekulanten weltweit auf Aktien, von denen bekannt ist, dass sie gerade die Zielobjekte von Leerverkäufern sind – neben Gamestop etwa auf die angeschlagene US-Kinokette AMC – und bringen die Märkte in Aufruhr. Sowohl die US-Regierung als auch die US-Börsenaufsicht SEC haben die Kursturbulenzen mittlerweile im Blick.
Der Chef der Wertpapieraufsichtsbehörde in Massachusetts, William Galvin, sieht darin sogar eine größere Bedrohung für den USAktienmarkt und kritisiert vor allem die Hedgefonds, die über komplizierte Praktiken mehr als 100 Prozent der ausstehenden Gamestop-Aktien leerverkauft hatten. „Der Marktplatz sollte ein Ort sein, an dem Risiken eingegangen werden, aber keine rücksichtslosen Risiken und keine Situation, die das System untergräbt, und genau darum geht es hier“, sagte Galvin der Zeitung „The Exchange“. Die Größe der Leerverkaufsposition in Gamestop-Aktien schaffe strukturelle Risiken und „muss sofort angegangen werden“.
Galvin sprach sich dafür aus, den Handel in Gamestop-Aktien für 30 Tage auszusetzen, um die Gemüter zu beruhigen. Am Donnerstag kündigten einige unter Kleinanlegern besonders beliebte Onlinebroker an, den Handel mit Gamestop-Aktien zu limitieren.