Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Gerichte verhandeln öfter online
Die Corona-Pandemie hat Gerichtsverhandlungen per Videokonferenz einen Schub verliehen – Dabei sind Tonund Bildschalten schon seit 2002 möglich – Nur genutzt hat sie bis jetzt kaum jemand
KEMPTEN (sz) - In Corona-Zeiten werden auch Gerichtsverhandlungen ins Netz verlagert. Grundsätzlich steht die Möglichkeit der Online-Verhandlung in verschiedenen Formen von Zivilprozessen zur Verfügung, etwa an Arbeitsgerichten oder Wirtschaftskammern. Die Vernehmung von Prozessbeteiligten per Video sei bereits seit 2002 möglich, erklärt Christopher Selke, Richter am Landgericht in Kempten, der Vorteile wie Nachteile kennengelernt hat.
- Die Residenz in Kempten ist ein prächtiges Dienstgebäude: Imposante Flure mit knarzendem Fischgrat-Parkett und Kreuzgänge mit endlos hohen Decken erzählen etwas von der königlichbayerischen Vergangenheit. Und auch von einer juristischen Gegenwart. Denn in der Residenz ist das Landgericht Kempten untergebracht. Im nicht weniger als fürstlich zu nennenden Sitzungssaal 238 hängt an der Tür ein Zettel mit dem Hinweis, dass wegen der allgemeinen Hygiene- und Abstandsvorschriften nicht mehr als acht Zuschauer hinein dürfen. Ein bisschen wirkt diese Ermahnung im Lichte vollkommener Leere auf den Fluren grotesk. Hinter der Tür sitzt nur Christopher Selke am Richterpult. Vor ihm verwaiste Stühle, die in äußerst luftigen Abständen schachbrettartig positioniert sind. In normalen Zeiten können im Raum 238 wahrscheinlich 50 Menschen den Streitigkeiten um Recht und Unrecht zuhören, während Kläger und Beklagte hitzig plädieren und Richter Ordnung in die Fälle bringen und am Ende mit ihrem Urteil abschließen.
Im Wissen all dessen sieht Selke jetzt besonders einsam aus, während draußen dichte Schneeflocken vom Kemptener Himmel fallen. Vom plan- und vorschriftsmäßigen Lüften liegt die Raumtemperatur unterhalb der Wohlfühlgrenze. Der Saal ist erfüllt von einem tiefen Brummen, das offenbar von der Technik herrührt, einem auf einer Art Fahrgestell montierten Bildschirm von wuchtiger Größe samt beweglicher Kamera obendrauf. Im altmodischen Kontrast dazu steht das übergroße Gemälde in Selkes Rücken, das eine sakrale Szenerie zeigt. „Die Vernehmung von Prozessbeteiligten per Video ist ja schon seit 2002 möglich“, erklärt der Richter, als er den Monitor über einen kleinen Tabletcomputer hochfährt. Es hat aber eine weltumspannende Pandemie gebraucht, eine reale Gefahr für Menschen, die sich sonst in der Enge eines Saales versammeln, bis diese Art des Verhandelns jetzt stärker in den Fokus gerückt ist. Allein am Landgericht München I, einem Gericht mit Vorreiterrolle, sind sogenannte Online-Verhandlungen seit Ausbruch der Seuche schon mehr als 100-mal über die Bühne gegangen, wie die Deutsche Presse-Agentur am Jahresende berichtete. Das bayerische Justizministerium verkündete zudem, dass 76 Videokonferenzanlagen an 75 Gerichten bereitstünden.
Eine davon brummt nun mit etwas veränderter Akustik in Saal 238, denn Christopher Selke hat einen Rechtsanwalt aus Stuttgart zugeschaltet, der die Interessen eines Klägers aus der Region vertritt. Und zwar gegen eine Versicherung, deren Rechtsanwältin in Hamburg sitzt. Die Würde des Gerichts bleibt auch über die Distanz Tausender Kilometer gewahrt: Richter und Anwälte tragen schwarze Roben. Die Übertragung der Stimme der Anwältin aus Hamburg ist mit etwas Hall verzerrt, sodass Richter Selke gelegentlich mit dem Hinweis, er habe sie akustisch nicht ganz verstanden, nachfragen muss. Die Stimme des Klägervertreters indes kommt glockenklar in Kempten an. Inhaltlich geht es um den Widerruf einer Versicherungspolice. Der Richter fragt die Parteien, ob sie einen Vergleich für möglich halten. Der Klägervertreter beantragt noch mal die Prüfung irgendwelcher Schriftsätze. Der Richter gewährt diese – und nach weniger als 15 Minuten ist die Verhandlung geschlossen. 15 Minuten, in denen sich die Anwältin 800 Kilometer Anreiseweg gespart hat und der Anwalt immerhin noch 200. Von den Kosten ganz zu schweigen. Denn es ist nicht ganz billig, eine Rechtsanwältin faktisch für einen Tag in den Zug zu setzen, dann kurz verhandeln und übernachten zu lassen, um sie tags drauf wieder eine Tagesreise lang einmal vertikal im Zug durch die Bundesrepublik zu schicken.
Grundsätzlich steht die Möglichkeit der Online-Verhandlungen in verschiedenen Formen von Zivilprozessen zur Verfügung, etwa an Arbeitsgerichten oder Wirtschaftskammern. In Strafrechtsprozessen allerdings nicht. Denn da herrscht Anwesenheitspflicht, denn dabei spielt der persönliche Eindruck eine noch wichtigere Rolle als im Zivilrecht, wie etwa das Justizministerium Baden-Württemberg auf Nachfrage der „Schwäbischen Zeitung“erklärt. Um auch in Strafverfahren online verhandeln zu dürfen, wäre eine Änderung der Strafprozessordnung notwendig. Dennoch liegt allein bei Zivilprozessen ein enormes Potenzial zur zeitlichen und finanziellen Entlastung der Beteiligten.
Aber warum sind Online-Verhandlungen dann nicht längst schon Alltag an deutschen Gerichten? Eine eindeutige Antwort auf diese Frage liefern weder Gerichtspräsidenten noch Sprecher in Ministerien. Technische Neuerungen brauchten eben ihre Zeit, man sei aber auf dem Weg. Letztendlich hat es damit zu tun, dass Menschen Gewohnheitstiere sind, was natürlich auch für Beamte gilt. Ein Jurist, der nicht offen sprechen möchte, formuliert es so: „Man wird es selbst gegen die Widerstände und dicksten Verkrustungen nicht aufhalten können.“Allein in diesem Satz schwingt genug mit, um eine Ahnung davon zu gewinnen, wie freudig der juristische Apparat vor der Pandemie die Option zur digitalen Rechtsprechung beklatscht haben mag.
München I und Kempten sind insofern schon ein gutes Stück weit in der digitalen Realität angekommen. Und Baden-Württemberg? Nachfrage beim Landgericht Ravensburg: Der Präsident Thomas Dörr sagt im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“, dass eine Kollegin „seit einigen Wochen“die Möglichkeiten, per Ton- und Bildübertragung verhandeln zu können, rege wahrnehme und „gute Erfahrungen“damit gemacht habe. „Wir stehen aber erst am Anfang und denken, dass es mit der Zeit mehr wird.“Die Entwicklung stehe allerdings im Kontext des Verlaufs der Pandemie. Thomas Dörr: „Wie es nach Corona weitergehen wird, können wir heute noch nicht sagen.“
Nachfrage im Justizministerium in Stuttgart, wie rege in BadenWürttemberg online verhandelt wird: „Die genaue Anzahl der Verfahren, welche online im Wege der Bild-Ton-Übertragung durchgeführt werden, wird statistisch nicht erfasst. Allerdings haben die Auswirkungen der Corona-Pandemie und die bestehenden Kontaktbeschränkungen dazu geführt, dass zwischenzeitlich in vielfältiger Weise von der Möglichkeit von Videoverhandlungen Gebrauch gemacht wird.“Die Frage, welches Gericht sich besonders hervortut – und welches Schlusslicht ist, bleibt aber unbeantwortet. Das Ministerium schreibt indes, dass nach „bisher gesammelten Erfahrungsberichten“insbesondere in der Arbeitsgerichtsbarkeit „intensiv von den Möglichkeiten einer Verhandlung im Wege von Bild und Ton“Gebrauch gemacht werde.
Aber wer entscheidet überhaupt, ob virtuell verhandelt werden darf ? Gemäß der gesetzlichen Grundlage § 128a der Zivilprozessordnung liegt das im Ermessen des Vorsitzenden Richters. „Natürlich kann die Videoübertragung aber nicht so gut sein wie eine Verhandlung in Anwesenheit
aller Beteiligten im Saal“, schränkt der Kemptener Richter Christopher Selke ein. Haltung, Stimmung, Gestik und Mimik – all das sei über den Bildschirm weniger authentisch wahrzunehmen, was eine Rolle spielen könne, um etwa die Glaubwürdigkeit von Klägern oder Zeugen möglichst treffend einzuschätzen. „Außerdem kann so ein System an Grenzen stoßen, wenn es zu viele Beteiligte gibt.“Denn auf dem Bildschirm wird’s irgendwann eng, wenn zu viele Menschen zugeschaltet sind. Zudem könne es dann für einen Richter schwierig werden, ein Verfahren im Griff zu behalten – etwa bei Zwischenrufen von Beteiligten. „Wir lernen da selbst auch noch dazu“, erklärt Selke, der sagt, es sein ein bisschen, wie ins kalte Wasser geworfen zu werden und dann schwimmen zu müssen. Intensive
Schulungen jedenfalls habe es nicht gegeben – was dem routinierten Umgang von Selke mit der Technik allerdings nicht anzumerken ist.
Und warum bleibt der Richter nicht gleich zu Hause und verhandelt gemütlich von dort aus? Selke lächelt kurz hinter seiner FFP2-Maske, bevor er sagt: „Ein Richter auf dem Sofa in der Jogginghose, das ist keine gute Vorstellung.“Dass ein Verfahren trotz aller digitaler Flexibilität an einen Gerichtssaal gebunden ist, hat mit dem Öffentlichkeitsgrundsatz zu tun. „Man will damit unbedingt vermeiden, dass es so etwas wie eine Geheimjustiz gibt.“Wenn Gerichtsverhandlungen aber grundsätzlich öffentlich zugänglich sein müssen, ist das Sofa des Richters bei sich daheim sicher keine Option. Eine Verpflichtung für die Justiz, online zu verhandeln, gibt es aber trotz der offenkundigen Vorzüge nicht. Außerdem können Verfahrensbeteiligte darauf bestehen, vor Ort in den Gerichtssaal kommen zu dürfen – ein Vorsitzender kann zum Beispiel Zeugen nicht dazu zwingen, dass sie online vernommen werden.
Christopher Selke blickt auf die Uhr, entschuldigt sich kurz und nimmt den Hörer seines Telefons in die Hand. Er ruft die Verfahrensbeteiligten an, die sich im gleich darauffolgenden Prozess in den Gerichtssaal zuschalten lassen werden. „Hören Sie, ich gebe Ihnen jetzt den Code durch“, erklärt der Richter und nennt eine Zahlenkombination, mit der sich der angerufene Rechtsanwalt gleich für die Videokonferenz legitimieren wird. Kurz bevor es dann losgeht, sagt Selke: „Es ist schon sehr wichtig, dass die Öffentlichkeit jederzeit an Verhandlungen teilnehmen kann.“Bewusst oder unbewusst – zu wissen, dass die Justiz einer öffentlichen Kontrolle unterliege, sei ein wichtiges Prinzip. Draußen in der gähnenden Leere der imposanten Flure ist sie aber an diesem Tag nicht zu finden, diese Öffentlichkeit. Jeder Schritt hallt in die Weiten der Residenz. Frischer Schnee hat draußen die Straßen mit einer rutschige Schicht überzuckert. Kein guter Tag für Reisende, weder aus Hamburg noch aus Stuttgart. Und auch nicht aus München, wo einer der Anwälte im nächsten Prozess von Selke sitzt, während der Schneefall dichter wird.