Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Deutsche Langsamkeit
Der Ausbau der Bahnlinie zwischen Karlsruhe und Basel stockt weiterhin – Dabei haben die Schweizer den Gotthard-Basistunnel bereits 2016 eingeweiht
- Von dem sich anbahnenden internationalen verkehrspolitischen Fiasko will am 1. Juni 2016 in dem kleinen Schweizer Gebirgsort Erstfeld niemand etwas hören. Jede Menge politische Prominenz hat sich dort versammelt, darunter die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und der damalige französische Präsident François Hollande. Der Grund für den Prominentenauftrieb: die offizielle Eröffnungsfeier für den 57 Kilometer langen, zweiröhrigen Gotthardbasistunnel, dessen Nordportal bei Erstfeld liegt. „Ein historischer Moment“, betont Johann SchneiderAmmann, seinerzeit Bundespräsident der Eidgenossen.
Das Eisenbahn-Loch unter den Alpen hindurch verspricht, durch eine größere Bahnkapazität und höhere Zuggeschwindigkeiten Europa enger zusammenzubringen. Die Euphorie in Erstfeld ist fast überschäumend, ebenso die Feierlaune. Güter- wie Personenverkehr könnten nun endlich wesentlich schneller über die alpine Hürde verkehren, heißt es feierlich unter sonnigem Himmel. Das Motto: schöner neuer Gebirgstransit.
Bedenkenträger hätten hingegen an diesem Junitag 2016 einiges bekritteln können. Dies hat damit zu tun, dass der elf Milliarden teure Tunnel Zulaufstrecken braucht: von Italien her, von Deutschland her. Und anders als es vielleicht vom Klischee her zu erwarten gewesen wäre, tut sich ausgerechnet die Bundesrepublik mit dem Ausbau der Anschlussstrecke für die Gotthard-Route schwer.
Und das noch immer. Süffisant vermerkte die Schweizer Verkehrsministerin Simonetta Sommaruga kürzlich: „Deutschland hat Verspätung. Das ist ein Problem.“Womit sich die Sozialdemokratin noch zurückhaltend ausdrückt. Ulrich Giezendanner, vermögender Transportunternehmer und bis 2019 für die gerne pöbelnde rechtskonservative Schweizer Volkspartei im Nationalrat, tönt seit Längerem, Deutschland hätte „eine himmeltraurige Verkehrspolitik im Schienenbereich“.
Konkret geht es um die längst völlig überlastete, fast 170 Jahre alte Zugverbindung von Karlsruhe durch die badische Hälfte des Oberrheintals in die eidgenössische Grenzstadt Basel. 186 Bahnkilometer sollen ein drittes und viertes Gleis bekommen. Baubeginn: 1987. Da gab es noch den Ostblock und die DDR. 34 Jahre später ist gerade Mal ein Drittel der Strecke fertig.
Die Arbeiten stocken derzeit wieder einmal. Erneut betrifft es den schon als unrühmlich bekannt gewordenen Tunnel bei Rastatt, einer historischen badischen Residenzund Festungsstadt zwischen Nordschwarzwald und Rhein. 4270 Meter lang soll das Bauwerk einmal werden. Doch 2017 gab beim Vortrieb in der Oströhre die Erdoberfläche nach – ausgerechnet an der Stelle, an der über dem geplanten Tunnel die bestehende Rheintalstrecke verläuft.
Sie war daraufhin für sieben Wochen gesperrt. Der mitteleuropäische Güterverkehr versank im Bahnchaos – eine absehbare Folge der Panne. Was daran liegt, dass die Route ein Schlüsselstück des 1300 Kilometer langen Güterverkehrskorridors vom Nordseehafen Rotterdam zum Mittelmeerhafen Genua ist. Er führt über das Ruhrgebiet, entlang des Rheins in die Schweiz, darauf durch Oberitalien. Wirtschaftlich gesehen der vitalste Strang quer durch die EU.
Als Treppenwitz des Ereignisses musste die Deutsche Bahn auch noch die 90 Meter lange und 18 Millionen Euro teure Tunnelbohrmaschine „Wilhelmine“im Untergrund einbetonieren. Nur so konnte die Erdoberfläche stabilisiert werden. Das wertvolle Gerät ist hingegen verloren. Bei einem Weiterbau der Oströhre in den kommenden Jahren kann nur noch der Schrott geborgen werden. Der noch nicht durchbohrte Tunnelteil wird dann von oben her ausgegraben. Doch dies ist Zukunftsmusik.
Aktuell geht es um die Weströhre. In ihr wartet eine blumig als „Sybilla Augusta“getaufte Tunnelbohrmaschine seit 2017 auf neue Arbeit. Sie war damals wegen einer Panne mit der Oströhre stillgelegt worden. Vergangenen November hätte das Bohrmonstrum wieder loslegen sollen. So hatte es die
Deutsche Bahn angekündigt. 200 Meter fehlen noch bis zum Ziel. Anlieger im betroffenen Rastatter Ortsteil Niederbühl warteten schon aufs unterirdische Rattern. Aber nichts geschah. Dafür bekommen Anlieger in einem Newsletter der Bahn die Nachricht, dass es am Tunnel „Herausforderungen wie Sand am Meer“gebe. Welche dies konkret sind, wurde nicht bekannt gegeben.
Ein Bahnsprecher verlautbarte, sein Unternehmen würde mit der Arbeitsgemeinschaft Tunnel Rastatt „detaillierte Analysen und Bodenuntersuchungen“durchführen. Wie lange sie andauern, ließ er offen – ebenso die Frage, wann der Tunnel endlich fertig werden soll. „Aus heutiger Sicht wird eine Inbetriebnahme erst nach 2025 möglich sein“, erklärte der Bahnsprecher. Zuletzt hatte es geheißen, erste
Züge sollten genau in dem besagten Jahr fahren.
Mit der Herumdruckserei macht sich die Bahn alles andere als Freunde. Rastatts Oberbürgermeister Hans Jürgen Pütsch (CDU) äußerte sich im Gespräch mit örtlichen Medien höchst verärgert über das Ausbleiben von Informationen. Der in der Region lebende FDPBundestagsabgeordnete und Verkehrsexperte Christian Jung sagt, „die Menschen wollen endlich Klarheit zum Bau des Tunnels“. Er hat nun eine parlamentarische Anfrage an die Bundesregierung gestellt, um zum Fortgang der Arbeiten „eine offizielle Antwort zu erhalten“.
Was sie wert sein wird, ist ungewiss. Angaben zum Streckenausbau Karlsruhe-Basel haben sich schon früher gerne als Schall und Rauch erwiesen. So sollte eine abgespeckte Variante des Projekts mit weniger Tunnels und weniger neuen Gleisen laut ursprünglichen Planungen nach Möglichkeit bereits bis 1994 fertiggestellt sein. Neun Kilometer der 186-Kilometer-Strecke waren es dann tatsächlich. Eine Mini-Leistung, die jedoch noch nicht für weitere Aufregung sorgte. Bei den Schweizer Nachbarn war nämlich bis dahin überhaupt nichts gebaut worden. Sie beschäftigten sich erst mit dem Planen ihrer „Neuen Eisenbahn-Alpentransversale“, abgekürzt als NEAT bekannt geworden. Zudem mussten alle Vorstellungen landestypisch vom Volk abgenickt werden.
1996 sortierten sich die Eidgenossen noch immer. Vielleicht fiel es den Deutschen deshalb leicht, im Tessiner Badeort Lugano einen Staatsvertrag mit der Schweiz abzuschließen. Darin versprachen sich beide Länder, „ausreichende Kapazitäten für den Transitverkehr“auf der Schiene zur Verfügung zu stellen. Die Bundesrepublik verpflichtete sich explizit, die Strecke Karlsruhe-Basel auf vier Spuren auszubauen.
Spötter sagen nun, dass für die Deutschen das Papier geduldig war – aber eben nur für sie. Indes legten die ansonsten als gemächlich verschrienen Eidgenossen los. 1999 war zweimal Anstich: einmal für den Gotthard-Basistunnel und dann westlich davon für den LötschbergBasistunnel. Dieses rund 34 Kilometer lange Bauwerk sollte ebenso zwei Röhren erhalten. 2007 war die erste fertig.
Der Ausbau der zweiten Lötschberg-Röhre wurde mangels Geld verschoben. Auch bei den Eidgenossen blieb also manches Projekt vorerst auf Papier. Aber entscheidende Unternehmungen klappten planmässig. Nach der Vollendung des Gotthardprojekts konnte vergangenen September noch der Ceneri-Basistunnel in Betrieb genommen werden, zwei 15 Kilometer lange Röhren im Tessin. Sie führen die Gotthardroute in Richtung des norditalienischen Industriezentrums Mailand fort. Hinzu kommen noch Ertüchtigungen an bestehenden Bahnlinien. Gegenwärtige tägliche Kapazität der Gotthard- und Lötschbergstrecke: rund 340 Züge ausschließlich im Fern- und Güterverkehr.
Und wo bleiben die Deutschen? Richtig voran scheint es nur bei den Kostenberechnungen für den Ausbau am Oberrhein zu gehen. Sie haben sich auf momentan zwölf Milliarden Euro mehr als verdoppelt. Sonst bewegt sich wenig. Bei Rastatt stecken die Arbeiten fest. An zwei anderen Brennpunkten der Rheintalstrecke verlangsamt heftiger Bürgerprotest alles Tun so stark, dass selbst Schneckenbewegungen schnell wirken. Es handelt sich um die Güterverkehrstrassen bei Offenburg und Freiburg. Fast 220 000 Einsprüche gibt es hier. Keiner will alle paar Minuten scheppernde Züge vor seinem Haus.
Wenigstens ist seit 2012 kurz vor der Schweizer Grenze der neun Kilometer lange Katzenbergtunnel vollendet. Die Deutsche Bahn preist ihn gerne als Musterbauwerk. Die eidgenössischen Nachbarn hätten aber lieber eine Antwort darauf, wann alles fertig ist.
Vor wenigen Jahren hatte es noch 2031 geheißen. Jetzt soll nun nach jüngsten Bahnschätzungen 2041 anvisiert werden – 54 Jahre nach Baubeginn. Das Bundesverkehrsministerium in Berlin teilt dazu Überraschendes mit: Bund und Bahn würden den viergleisigen Ausbau der Rheintalbahn „mit Hochdruck“vorantreiben. Gleichzeitig verweist das Ministerium auf die Bürgereinsprüche. Sie hätten zu Umplanungen und neuen Planfeststellungsverfahren geführt. Deshalb brauche man „etwas mehr Zeit“.
Doch die Uhr läuft eben. Über 300 Züge sind täglich auf der Strecke unterwegs. Davon viele im Personennahverkehr. Hinzu kommt der Fern- und Güterverkehr. Tendenz steigend. „Die Wirtschaft setzt sich daher dafür ein, dieses Nadelöhr rasch zu beseitigen, zusätzliche Kapazitäten zu schaffen und die Reise- und Transportzeiten zu verkürzen“, sagt Wolfgang Grenke, Präsident des Baden-Württembergischen Industrie- und Handelskammertags. Er will eine Beschleunigung der Planungen. Noch nie sei so viel Geld für die Schiene im Bundeshaushalt bereitgestanden wie jetzt. „Es sollte schnellstmöglich eingesetzt werden“, fordert Grenke.
Nun behauptet niemand, dass die zwei unfertigen Ausbaudrittel der 186 Kilometer langen Rheintalstrecke über Nacht befahrbar gemacht werden könnten. Doch auch international wächst der Druck, Dampf zu machen. Weshalb sich Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer im Mai 2019 in Leipzig mit seiner Schweizer Kollegin Simonetta Sommaruga getroffen hat. Der CSU-Politiker sagte zu, im Eilverfahren die bestehende Strecke wenigstens zu ertüchtigen. Ab 2023 sollten zusätzlich 50 Güterzüge in jede Richtung verkehren können.
Die Eidgenossen bleiben aber argwöhnisch, ob sich tatsächlich Bemerkbares tut. Immer wieder bringen sie den deutsch-schweizerischen Staatsvertrag zum Streckenausbau von 1996 in Erinnerung. Dabei schwingt der Vorwurf mit, Deutschland lasse es bei bloßen Versprechungen. „Die Situation ist unbefriedigend“, meldet Kurt Lanz, Mitglied der Geschäftsleitung von „economiesuisse“, dem Verband der Schweizer Unternehmen. Er wünscht sich, „dass aufgrund der staatsvertraglichen Verpflichtungen diesen Projekten auch auf deutscher Seite ein höherer Stellenwert beigemessen wird“.
Michael Müller, Mediensprecher des eidgenössischen Verkehrsministeriums, erinnert daran, die neuen Alpenüberquerungen könnten „ihre volle Wirkung erst entfalten, wenn auch die Zulaufstrecken im Norden und Süden ausgebaut sind“. Wie ein Wink mit dem Zaunpfahl folgt der Hinweis, die Italiener würden ihre Aufgaben zwischen der Grenze zur Schweiz und dem Mittelmeerhafen Genua Schritt für Schritt abarbeiten. In der Tat sollen dort zumindest die wichtigsten Abschnitte in zwei Jahren vollendet sein – inklusive einer Schnellbahnstrecke durchs Küstengebirge bei Genua.
Mit Blick auf Deutschland suchen die Eidgenossen indes lieber nach Alternativrouten. Im vergangenen Juni hat ihr Parlament die Regierung beauftragt, eine linksrheinische Strecke durchs Elsass über Strassburg zu forcieren. Fast schon eine Verzweiflungstat, denn zu allererst muss Frankreich vertraglich mit ins Boot geholt werden. Des Weiteren sind unter anderem mehrere Tunnels in den Vogesen nötig.
Aus Paris hieß es bereits, der Bau einer solchen Strecke sei nicht vorrangig. Womit klar ist: Der Zeithorizont für ein solches Projekt bleibt ungewiss. Es scheint, als sei der ganze Jubel über die Eröffnung des Gotthard-Basistunnels vor fünf Jahren vom verkehrspolitischen Alltag verschluckt worden.