Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Schandfleck der Welt
Kinderarbeit hat jahrelang abgenommen – Die Corona-Krise könnte die Entwicklung nun aber umkehren
GENF/NEU-DELHI (dpa) - Vor gut einem Jahr besuchte Shekh Zahid noch die vierte Klasse. Heute stochert der Zehnjährige in einer mehr als 50 Meter hohen Mülldeponie im Norden der indischen Hauptstadt Delhi. Es stinkt wie nach verrotteten Eiern. Jeden Tag sucht Shekh hier mit seinem Onkel und vielen anderen Erwachsenen und Kindern, was man noch verwerten und verkaufen kann. Für rund 150 Rupien, etwa 1,70 Euro pro Tag. Seine Familie habe ihn von ihrem mehr als tausend Kilometer entfernten Zuhause in Westbengalen nach Delhi geschickt. „Wir sind arm, während des Corona-Lockdowns haben wir viel gelitten“, sagt der kleine Junge, seine Hände sind schwarz vom Dreck. Sein Vater verdiene viel weniger als Rikscha-Fahrer. „Ich muss meine Familie unterstützen.“Und diese vermisse er.
Damit Shekh und Millionen andere Kinder bald in eine bessere Zukunft schauen, haben die Vereinten Nationen jetzt das „UN-Jahr der Beseitigung der Kinderarbeit“ausgerufen. In den nachhaltigen Entwicklungszielen (SDG) steht, dass jegliche Form von Kinderarbeit bis 2025 zu beenden ist.
In diesem Ringen sind nach Überzeugung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) angesichts der Folgen der Corona-Krise neue Impulse nötig. „Wenn wir unsere Anstrengungen nicht erhöhen, besteht das Risiko, dass wir Rückschritte machen statt voranzukommen“, sagt ILO-Generaldirektor Guy Ryder.
Wie auch bei Shekh geht es bei der Kinderarbeit immer um fatale Armut. Familien wissen sich nicht anders zu helfen, als ihre Kinder zum Dazuverdienen zu zwingen, um die
Familie zu ernähren. Alarmiert sind die humanitären Organisationen wegen der Corona-Krise: „Das kann uns um Jahre, wenn nicht eine ganze Generation zurückwerfen“, sagt Benjamin Smith, Experte für Kinderarbeit bei der ILO. „Schon in den ersten Monaten sank das Einkommen der Menschen, die von der Hand in den Mund leben, im weltweiten Durchschnitt um 60 Prozent.“In vielen Ländern sei das die Mehrheit der
Jobs. Betroffen waren etwa Leute, die Essen an Straßenständen verkaufen, auf Feldern arbeiten, kleine Verkaufsstände betreiben, Wäsche waschen, Häuser putzen, im Restaurant bedienen. Bis zu 150 Millionen Menschen könnten wegen der CoronaKrise bis Ende des Jahres wieder in extremer Armut landen, schätzt die Weltbank. Sie haben dann weniger als umgerechnet 1,50 Euro für das Überleben pro Tag.
In mehreren Ländern sind auch seit Monaten coronabedingt die Schulen geschlossen. In Indien etwa hatten die Kinder wie Shekh dort kostenloses Essen erhalten, was Eltern dazu bewogen hatte, sie dorthin zu schicken. Online-Unterricht gibt es wegen des fehlenden Internetzugangs an vielen Orten nicht. Auch deshalb schicken etliche Eltern sie stattdessen zum Arbeiten – und die Chancen der Kinder, der Armut zu entfliehen, schwinden weiter.
Die ILO definiert Kinderarbeit als Tätigkeit, die jungen Menschen schadet oder sie vom Schulbesuch abhält. Zwar ist die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die arbeiten statt zur Schule zu gehen oder eine Ausbildung zu machen, seit dem Jahr 2000 um etwa 100 Millionen gesunken. Trotzdem müssen immer noch 152 Millionen schuften, fast jedes zehnte Kind unter 18 Jahren. 48 Prozent
von ihnen sind noch nicht mal zwölf Jahre alt.
Bei fast der Hälfte der 152 Millionen Minderjährigen geht es um Arbeit, die gefährlich oder ausbeuterisch ist oder ihre körperliche oder seelische Entwicklung schädigt. Das kann Arbeit unter Tage sein, schwere Lasten tragen oder mit gefährlichen Werkzeugen oder Chemikalien hantieren. Jedes fünfte arbeitende Kind lebt auf dem afrikanischen Kontinent, in der Asien-PazifikRegion sind es 7,4 Prozent.
Das UN-Kinderhilfswerk
Unicef nennt Beispiele: Ahmad (13) muss im palästinensischen Autonomiegebiet Gazastreifen in Hausruinen Trümmersteine suchen und diese auf dem Markt an Kiesmacher verkaufen. Er hilft so der elfköpfigen Familie beim Überleben. Die Syrerin Dyana (13) arbeitet im Libanon auf dem Feld. Sie war noch nie in der Schule. „Ich stelle mir eine Schule wunderschön vor, mit gemalten Bildern von Jungen und Mädchen an der Wand“, sagt sie. Dulaly und Chan
„Ich stelle mir eine Schule wunderschön vor, mit gemalten Bildern von Jungen und Mädchen an der Wand.“Die Syrerin Dyana (13) arbeitet im Libanon auf dem Feld
Mia, beide zehn Jahre alt, tragen Passagieren in einem Hafen in Bangladesch Koffer. In Kambodscha rupft eine Siebenjährige barfuß Unkraut, stundenlang. Ein Zehnjähriger pflückt in Indonesien Tabak. Yanick (11) hat das für Smartphones, Laptops und elektrische Fahrzeuge nötige Kobalt in einem Bergwerk im Kongo abgebaut.
Auch in vermeintlich reichen Ländern gibt es Kinderarbeit, sagt Smith, der Experte für Kinderarbeit bei der ILO. Minderjährige Prostituierte etwa, die von Menschenschmugglern ins Land geschleust werden. Und es gibt Pädophile, die sich an Kindesmissbrauch auf Webseiten ergötzen. „Das Risiko dieser Ausbeutung steigt erschreckend“, sagt Smith. Ermittler meldeten einen großen Anstieg bei einschlägigen Webangeboten. „Das ist ein Riesengeschäft“, sagt er. Nach Schätzungen würden eine Million Kinder weltweit so missbraucht. „Aber es gibt eine hohe Dunkelziffer.“