Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Appell für neue Weltordnung
Merkel setzt auf bessere internationale Kooperation
WASHINGTON (AFP/sz) - Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), der französische Staatschef Emmanuel Macron und andere internationale Spitzenpolitiker haben die CoronaKrise als Chance zur Neuordnung der Weltpolitik bezeichnet. Die Krise biete Gelegenheit, „durch effiziente Zusammenarbeit, Solidarität und Koordination wieder einen Konsens über eine internationale Ordnung zu erzielen“, schreiben die Politiker in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Die Hoffnungen der Europäer ruhen dabei auch auf dem neuen USPräsidenten Joe Biden. Anders als sein Vorgänger Donald Trump werde dieser eine enge Zusammenarbeit mit der EU anstreben, sagte Charles A. Kupchan, ehemaliger Berater von Barack Obama, der „Schwäbischen Zeitung“.
WASHINGTON - Mehr europäisches Engagement in Krisenregionen, ein gemeinsamer Kurs im Verhältnis zu China: Das erwartet der US-Wissenschaftler Charles A. Kupchan vom neuen US-Präsidenten Joe Biden. Unter Barack Obama war Kupchan im Sicherheitsrat des Weißen Hauses zuständig für die Beziehungen zu Europa. Unser Korrespondent Frank Herrmann hat mit ihm gesprochen.
Als Biden gewählt wurde, war die Erleichterung in Europa groß. Was haben die Europäer nun aber realistisch von ihm zu erwarten?
Biden ist der transatlantischste Präsident, den die USA seit Jahrzehnten hatten. Er war immer ein kompromissloser Verfechter enger Bande über den Atlantik, er ist ein Fan der Nato, er hat sich intensiv mit europäischer Sicherheit beschäftigt, als Vizepräsident ist er sechsmal allein in die Ukraine geflogen. Zweitens ist er sich im Klaren darüber, welchen Schaden Trump angerichtet hat. Er wird das ihm Mögliche tun, um wieder Vertrauen aufzubauen und den Alliierten zu versichern, dass Amerika zu seinen Bündnispflichten steht. Drittens weiß er genau, welche Gefahr von Trump und Politikern seines Schlages für die Demokratie ausgeht. Daher wird sich Biden den traditionellen Verbündeten in Europa zuwenden und sagen, hey, lasst uns gemeinsam sicherstellen, dass unser „Way of Life“auf einem grundsoliden Fundament ruht.
Trump wurde 2016 auch deshalb gewählt, weil viele Amerikaner es leid waren, ihr Land die Rolle des Weltpolizisten spielen zu sehen. An dieser Grundstimmung hat sich ja nichts geändert. Welchen Spielraum hat Biden überhaupt?
Ich denke, Biden wird den strategischen Rückzug fortsetzen, denn das ist es, was die Amerikaner wollen. Das Kapital, das er hat, muss er einsetzen, um innenpolitische Ziele zu erreichen. Besonders in seinem ersten Amtsjahr wird Biden ein innenpolitischer Präsident sein.
Was bedeutet das für die Beziehungen zu Europa?
Dass die USA in der Nachbarschaft des Kontinents weniger präsent sein werden. Biden dürfte den amerikanischen Fußabdruck im Nahen Osten und in der Mittelmeerregion weiter verkleinern. Daraus folgt, dass Europa dort mehr tun muss.
Wie stark wird der Druck sein, den auch Biden ausübt, damit europäische Nato-Partner das Versprechen erfüllen, mindestens zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für die Verteidigung auszugeben?
Den Druck wird es weiterhin geben, das ist auch richtig. Doch das Gespräch wird ein respektvolles sein, was allein schon einen enormen Unterschied macht. Aber es wird zu viel über die zwei Prozent geredet und zu wenig darüber, was ein Land konkret im Interesse aller beitragen kann. Die Europäer könnten schon jetzt aktiver werden, etwa in
Form einer humanitären Mission in Libyen oder durch einen stärkeren Beitrag zur Stabilität im Südkaukasus. Signalisieren sie Biden, dass sie bereit sind, mehr Verantwortung zu übernehmen, wäre das mindestens so wichtig wie höhere Verteidigungsausgaben.
Biden will die Europäer dazu bringen, ihre Chinapolitik mit ihm zu koordinieren. Nun sind die Interessen, besonders die wirtschaftlichen, nicht deckungsgleich. Verfolgt Biden ein realistisches Ziel?
Er bewegt sich jedenfalls in die richtige Richtung. Amerikas eigentliches Plus gegenüber China besteht doch in dem Netz aus Verbündeten und Partnern, das es geknüpft hat. China ist in fünf, sechs, sieben Jahren die stärkste Volkswirtschaft der Erde. Mit einem Bund demokratischer Staaten kann es China allerdings auch dann nicht aufnehmen. Im Übrigen halte ich es für richtig, Peking in Handelsfragen die Stirn zu bieten.
Trumps Fehler war, dass er im Alleingang handelte. Die USA werden eine Öffnung des chinesischen Marktes, faire Wettbewerbsbedingungen, ein Ende des Diebstahls geistigen Eigentums viel eher erreichen, wenn es China mit einer Einheitsfront demokratischer Länder zu tun bekommt. Es wäre auch wichtig, eine gemeinsame Haltung zur Verletzung der Menschenrechte zu finden. Einfach wird das alles nicht, denn die chinesische Wirtschaft bleibt ein Wirtschaftsmotor, von dem Europäer wie Amerikaner profitieren wollen. Daher ist die EU ja auch vorgeprescht mit ihrem Investitionsabkommen, obwohl die designierte Regierung Biden signalisierte, dass man darüber doch bitte erst mit ihr reden möge, sobald sie im Amt sei.
Was sagt Ihnen dieses Kapitel?
Dass es gute und schlechte Tage geben wird, wenn man versucht, die
Chinapolitik transatlantisch zu koordinieren. Es wird vieles geben, wo wir übereinstimmen, aber auch manches, wo wir auseinanderdriften. Biden, denke ich, will als Erstes vermeiden, dass es im Verhältnis zu China noch weiter abwärts geht. Ob es ihm gelingt, weiß heute niemand. Es steht außer Frage, dass die USA und China bei einigen Kernpunkten im Clinch liegen. Ob es um das Südchinesische Meer geht, um Hongkong, den Umgang mit den Uiguren, um den Handel oder die Tatsache, dass Peking in der Pandemie nicht mit offenen Karten spielte: Da hat sich jede Menge Konfliktstoff angesammelt. Die Europäer haben sicher kein Interesse an einem neuen Kalten Krieg. Ich glaube, hier und da können sie vielleicht eine Vermittlerrolle spielen.
Wie, glauben Sie, wird der Streit um die Gaspipeline Nord Stream 2 enden?
Im Moment sehe ich keinen Kompromiss, mit dem jeder leben kann. Bidens Regierung ist gegen die Fertigstellung des Projekts, während die deutsche Regierung auf die Fertigstellung drängt. Sollte es eine Lösung geben, müsste das einhergehen mit einer Verbesserung des Verhältnisses zwischen den westlichen Demokratien und Russland, mit einer Annäherung im Streit um die Ukraine.
Das klingt nach einer Art Paketlösung.
Biden dürfte in puncto Ukraine versuchen, auf diplomatischem Wege voranzukommen. Ich sehe aber keine Anzeichen, dass Wladimir Putin kompromissbereit ist. Zumal wir es jetzt mit dem Fall Nawalny zu tun haben, was jeglichen Fortschritt erschweren dürfte. Wir stecken in einem Dilemma. Am besten, man lässt die Pipeline in dem Zustand, in dem sie im Augenblick ist, und lässt die Diplomaten ihre Arbeit machen.
Also ein Baustopp.
Ja, ich glaube, Nord Stream 2 zu Ende zu bauen wäre ein Fehler, wenn sowohl das Parlament als auch die Regierung der USA wie auch etliche europäische Länder dagegen sind.
Welche außenpolitischen Lehren sollte Amerika aus den vier Jahren Trump ziehen?
Für mich ist die wichtigste Lektion: Außenpolitik beginnt zu Hause. Bevor die USA zu jener Führungsrolle zurückkehren können, auf die viele unserer Verbündeten hoffen, müssen wir unser eigenes Haus in Ordnung bringen. Die andere Lehre ist die: Die Vereinigten Staaten müssen Mannschaftsspieler sein. Die meisten Gefahren, denen wir heute ausgesetzt sind, können nur durch internationale Teamarbeit gebannt werden. Wir haben unendlich viel Geld fürs Militär ausgegeben, aber wir leben in einem Land, in dem bald eine halbe Million Menschen einem winzigen Virus zum Opfer gefallen sein werden. Der Klimawandel betrifft uns akut. Die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen, Cyber-Sicherheit, das alles erfordert Teamwork. Trumps größter außenpolitischer Fehler war, dass er dem Rest der Welt den Rücken zukehrte. Das hat uns isoliert, es hat uns geschwächt, und das inmitten der größten Gesundheitskrise seit 1918.