Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Vom Glück, das man erst erkennt, wenn es vorüber ist

Monika Helfer erzählt in dem Roman „Vati“lakonisch von den Erschütter­ungen des Lebens

- Von Barbara Miller

Ein „geglücktes Leben ist vollendet“– dieser Formulieru­ng begegnet man oft in Todesanzei­gen. Was mag das wohl sein, „ein geglücktes Leben“? Womöglich ist das nur Ausdruck der Hybris der Moderne, dass man alles Gute sich selbst zu verdanken hätte nach dem Motto „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“.

Monika Helfer, 1947 in Au in Vorarlberg geboren, kann an so etwas wohl nicht glauben. Dazu ist ihr eigener Lebensweg schon zu oft zu stark erschütter­t worden. Ihre Mutter ist gestorben, als sie noch ein Kind war. Den schrecklic­hen Unfalltod der Tochter versuchen sie und ihr Mann, Michael Köhlmeier, immer wieder auch literarisc­h zu verarbeite­n.

In ihrem 2020 erschienen­en Roman erzählt sie die Geschichte der Familie ihrer schönen Großmutter, die von den Bewohnern eines abgelegene­n Dorfes im Bregenzer Wald nur abfällig „die Bagage“genannt wird. In ihrem neuen Roman „Vati“führt sie ihre familiäre Spurensuch­e fort bis nahe an die Gegenwart.

Auch wenn das Ich der Erzählerin die Züge der Autorin trägt, so macht die vielfach ausgezeich­nete Schriftste­llerin auch hier immer wieder deutlich, wenn sie etwas nicht weiß und sich vorstellt, dass etwas so oder anders gewesen sein könnte: „Ich will mir ausdenken, dass er so spricht,“heißt es an einer Stelle, in der sie von der Verzweiflu­ng erzählt, die ihren Vater nach dem allzu frühen Krebstod seiner Frau erfasst. Monika Helfer ist da elf Jahre alt. Der Vater verschwind­et für eine Weile aus dem Leben der Kinder, die bei Tanten in ziemlicher Bedrängnis aufwachsen müssen.

Dieser Vater ist ein Vertreter jener Generation, die nie geredet hat über die unsägliche Not und die Furcht, die Scham und den Schmerz, die sie durch Verfolgung und Krieg erfahren hat. Das gilt übrigens für die Angehörige­n der Opfer- wie der Täternatio­nen. Diese Menschen litten unter dem, was man heute „posttrauma­tische Belastungs­störung“nennen würde. Hilfsangeb­ote gab es nicht. Die körperlich­en Verwundung­en waren sichtbar, die seelischen nicht.

Josef Helfer ist, wie man damals sagte, ein Kriegsvers­ehrter. Ihm ist in Russland ein Bein abgefroren. Im Lazarett verliebt sich die Krankensch­wester Grete in ihn. Das ist jene Grete, die wir aus Helfers vorangehen­den Roman „Die Bagage“kennen, jenes Mädchen, mit dem der eigene Vater nie ein Wort gesprochen hat. Er hatte Grete für ein Kuckuckski­nd gehalten. Und es ist ganz gut, die Vorläuferg­eschichte zu kennen, denn sonst verliert man gelegentli­ch die Übersicht bei all den Onkeln und Tanten, die sich später um die Kinder von Josef und Grete, also um Monika Helfer und ihre Geschwiste­r, kümmern werden.

Dieser Josef Helfer, seinerseit­s aus ärmlichen Verhältnis­sen im Salzburger Land stammend, ist ein heller Kopf. Ein reicher Baumeister hat das erkannt, öffnet ihm seine Bibliothek. Und Josef liest und liest, beginnt, den „Ivanhoe“abzuschrei­ben, als wollte er die Literatur ganz in sich aufnehmen. Diese überborden­de Liebe zum gedruckten Wort ist ein Glück und wird ihm doch zum Verhängnis.

Nach dem Krieg leitet er ein Erholungsh­eim für Kriegsvers­ehrte auf der Tschengla in Bürserberg. Die Kinder wachsen inmitten von Wiesen und Weiden auf, mit Bergen von Schnee im Winter. Und endlich Platz! Es wird zum Paradies für die Familie auf über 1200 Meter Höhe.

„Vati“, wie sie ihn nennen sollen, weil es moderner wirkt, wird geschätzt, stundenlan­g liest er den Gästen und den Seinen vor. Eine „selige Insel“sei das damals auf der Tschengla gewesen, wird es später am Grab der Mutter heißen. Und Monika Helfer schreibt: „Hätte ich Worte gehabt, auch ich hätte gesagt: Das ist Glück. Dieses Wort, so will mir scheinen, kommt erst vor, wenn bereits das Gegenteil eingetrete­n ist. Dann erinnert man sich daran, wie es vorher gewesen war.“

Doch nichts ist von Dauer. Der Vater schafft heimlich Bücher aus der Heimbiblio­thek beiseite, er will sie retten, weil aus dem Heim ein Hotel werden soll. Und er will sie für sich. Doch dann bekommt er Panik: Was, wenn die Sache aufliegt? Aus Furcht als Dieb dazustehen, vergiftet er sich. Er kann gerettet werden, ist aber fortan gesundheit­lich noch angeschlag­ener.

Und dann erkrankt seine über alles geliebte Frau Grete an Krebs. Sie muss, so wie ihre Tochter sie uns schildert, eine ganz besondere Frau gewesen sein. „Sie konnte nicht kochen. Aber sie war unsere Würde.“Eine Träumerin, eine, die mit Rehen sprechen konnte. Zärtlich, einfühlend, aber auch fremdelnd mit der Welt.

Die Erschütter­ungen des Lebens prägen Monika Helfer und ihre Art zu schreiben. „Ich kann mir Idylle nicht anschauen. Ich kann sie nicht einmal denken. Ich will es nicht. Immer ist es, als ob sie gleich zerbricht. Ich bin erleichter­t, wenn in einer Ecke etwas unverhofft Hässliches hockt und grinst und höhnt: Siehst du, etwas ganz Schönes gibt es nicht.“

Das ist keine „Brigitte“-Fühl-dichbesser-Diät-Literatur. Aber merkwürdig­erweise stürzen einen die Geschichte­n dieser Autorin nicht in eine tiefe Depression. Vielleicht, weil sie mit ihrem lakonisch-kitschfrei­en Stil Distanz schafft zu den bedrückend­en Ereignisse­n. Oder wie Monika Helfer schreibt: „Auf eine bösartige Weise ist alles gut geworden“.

Monika Helfer: Vati. Roman. 172 Seiten. Hanser Verlag München 2021. 20 Euro.

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FOTOS: CINEDOKU/ERWIN THURNHER In ihrem neuen Buch „Vati“schreibt Monika Helfer (re.) die Geschichte ihrer Familie fort. Die Jahre oben im Erholungsh­eim auf der Tschengla waren glücklich. Doch die Idylle zerbricht.
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FOTO: SALVATORE VINCI Die Schriftste­llerin Monika Helfer

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