Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Die Stimmung droht zu kippen
Vertrauen in Corona-Management der Politik sinkt – Ethikrat gegen Ausnahmen für Geimpfte
BERLIN/WIESBADEN (dpa/KNA/sz) - Ein einmaliger Zuschuss von 150 Euro für Hartz-IV-Empfänger, ein Kinderbonus in gleicher Höhe, eine Milliarde Euro für die Kulturbranche sowie steuerliche Hilfen für Unternehmen und Gastronomie – auf diese Hilfen in der Corona-Pandemie hat sich die Bundesregierung verständigt. Bereits nächste Woche, so Arbeitsminister Hubertus Heil, sollen die Beschlüsse ins Kabinett. „Die jetzt beschlossenen Maßnahmen helfen nicht nur sozial, sie sind auch wirtschaftlich vernünftig“, sagte der SPD-Politiker am Donnerstag.
Aus der Opposition kam massive Kritik an den Beschlüssen. Wirtschaft, Gewerkschaften und Sozialverbände nannten die Hilfen unzureichend.
In der Bevölkerung schwindet nach nunmehr einem Jahr Pandemie das Vertrauen in das Krisenmanagement von Bund und Ländern. Das ergab die Ende Januar durchgeführte und am Donnerstag veröffentlichte repräsentative Befragung des Versicherungsunternehmens R+V. 59 Prozent der Befragten befürchten, dass Politiker wegen ihrer Aufgaben überfordert seien, ein Anstieg von elf Prozentpunkten im Vergleich zum vergangenen Sommer – zu diesem Zeitpunkt findet die alljährliche Befragung normalerweise statt. Die zuletzt hohen Infektionszahlen hätten zudem die Angst vor einer Erkrankung geschürt. Knapp die Hälfte (48 Prozent) sei besorgt, dass sie selbst oder Familie und Freunde sich mit Corona infizieren könnten. Im Vergleich zum Sommer 2020 sei das ein Anstieg um 16 Prozentpunkte. Auch ängstigt die Aussicht, dass bis zum Ende der Impfkampagne immer wieder neue Lockdowns drohen könnten, mehr als jeden zweiten Deutschen (58 Prozent).
In der Debatte über eine Aufhebung der Corona-Einschränkungen für Geimpfte hat sich am Donnerstag auch der Ethikrat geäußert. Das Wissenschaftler-Gremium hält es für falsch, diese für Geimpfte früher zu beenden. Ohnehin müsse erst geklärt werden, ob von geimpften Menschen weiterhin eine Ansteckungsgefahr ausgehe oder nicht, sagte die Vorsitzende des Ethikrates, Alena Buyx, am Donnerstag in Berlin. Das Befolgen von Regelungen wie Masketragen oder Abstand halten könne man auch Geimpften weiterhin zumuten, wenn dies notwendig sei.
BERLIN (KNA) - Haben Geimpfte bald mehr Rechte als Nicht-Geimpfte? In der Debatte geht es auch um die Themen Solidarität, Gerechtigkeit und die Einschränkung von Grundrechten. Am Donnerstag hat der Deutsche Ethikrat Stellung bezogen.
Worum geht es in der Debatte?
Bereits im Frühjahr 2020 wurde europaweit debattiert, ob der Staat Bürgern, die durch Tests oder Impfungen eine Immunität gegen Corona nachweisen können oder von einer Corona-Erkrankung genesen sind, eine Bescheinigung ausstellen darf, damit sie ohne Einschränkungen am öffentlichen Leben teilnehmen können. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte daraufhin eine Stellungnahme des Deutschen Ethikrates angefordert. Das Gremium plädierte im Herbst gegen die Einführung eines solchen Nachweises „zum jetzigen Zeitpunkt“. Begründet wurde das damit, dass bislang ein belastbarer Nachweis über Grad und Dauer einer Immunität durch eine Impfung fehlten.
Warum flammt die Debatte jetzt wieder auf ?
Mit der zunehmenden Zahl an Impfungen gegen das Virus wird erneut die Frage diskutiert, ob für Bürger, die geimpft sind, möglicherweise Kontaktverbote aufgehoben werden können. Sie könnten sich frei bewegen und ohne Gefahr ältere Verwandte oder Gottesdienste besuchen, in Fußballstadien oder auf Konzerte gehen. Der Konzertveranstalter CTS Eventim hat bereits angekündigt, die Teilnahme an Veranstaltungen künftig an eine Impfung gegen das Coronavirus binden zu wollen. Zugleich wächst der Wunsch, wieder in ein normales Leben zurückkehren zu können.
Ist wissenschaftlich gesichert, wie lang eine Immunität entsteht?
Nach Angaben der Medizin steht noch nicht fest, ob geimpfte Menschen nicht doch weiterhin ansteckend sind. Bisher sei es zumindest denkbar, dass ein Geimpfter bei Kontakt mit dem Erreger zwar selbst nicht mehr erkrankt, das Virus aber an andere weitergeben kann. Lockerungen könnten damit zu einer neuen Infektionswelle führen.
Sollte ein solcher Nachweis aber in den kommenden Monaten gelingen, stellt sich die Frage, ob man Bürger angesichts eines knappen Angebots an Impfstoff unterschiedlich behandeln darf...
Kritiker warnen vor einer Zweiklassengesellschaft und vor einer Spaltung der Gesellschaft. Erst wenn alle Bürger die Chance gehabt hätten, sich impfen zu lassen, könne man über eine solche Ungleichbehandlung nachdenken. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) erklärte: „Viele warten solidarisch, damit einige als erste geimpft werden können. Und die Noch-Nicht-Geimpften erwarten umgekehrt, dass sich die Geimpften solidarisch gedulden.“Auch Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) erklärte, solange nicht allen ein Impfangebot gemacht werden könne, sei es „ein Gebot der Fairness und der Solidarität,
Sonderrechte weder einzufordern noch anzubieten.
Gibt es daran Kritik?
Ja. So hält der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, eine Einschränkung von Bürgerrechten für Geimpfte für unzulässig. „Sobald gesichert ist, dass von Geimpften keine Ansteckungsgefahr mehr ausgeht, gibt es verfassungsrechtlich keine Legitimation mehr, die Betroffenen in ihren Grundrechten weiter zu beschränken“, sagt er. Ähnlich argumentiert der Staatsrechtsexperte Rupert Scholz: „In Wahrheit geht es nicht um Solidarität, sondern um die Frage, ob Bürger, die nachweislich nicht mehr ansteckend sind, weiter bevormundet werden sollen.“Wenn eine geimpfte Person keine Gefahr mehr für die Gesundheit anderer darstelle, sei ein Eingriff in seine Freiheitsrechte nicht mehr verhältnismäßig.
Was hat der Deutsche Ethikrat jetzt empfohlen?
Er sieht derzeit keine Möglichkeit, die Auflagen für geimpfte Menschen zurückzunehmen. Zuvor müsse sichergestellt sein, dass diese andere nicht mehr mit Covid-19 infizieren. Auch Geimpften, die nicht mehr infektiös sind, können nach Auffassung der Ethiker Präventionsmaßnahmen wie Abstandsregeln oder Maskentragen zugemutet werden. Das Gremium begründet seine Empfehlung auch damit, dass ein Teil der Bevölkerung die Rücknahme der staatlichen Auflagen für bereits Geimpfte als ungerecht beurteilen könnte. Die Regeln sollten für alle zum selben Zeitpunkt aufgehoben werden.
Private Unternehmen haben aber doch ein Hausrecht und haben auch schon vor Corona bestimmte Personen ausgeschlossen?
Für Private gilt in Deutschland der Grundsatz der Vertragsfreiheit. Der Betreiber einer Diskothek muss einen Gast zum Beispiel nicht hereinlassen, wenn ihm der Kleidungsstil nicht passt. Der Ethikrat betont, dass Veranstalter auch jetzt „grundsätzlich frei in ihrer Entscheidung sind, mit wem sie einen Vertrag schließen“. Das umfasse „prinzipiell auch die Möglichkeit, nach dem Impfstatus zu differenzieren“. Diese Rechte gelten nach Einschätzung des Rates allerdings nicht, wenn der Staat eine allgemeine Schließung angeordnet hat. Auch für Einrichtungen, die für eine gleichberechtigte und grundlegende Teilhabe am gesellschaftlichen Leben unerlässlich sind wie etwa der öffentliche Nahverkehr oder Lebensmittelläden, hält der Ethikrat Einschränkungen der Vertragsfreiheit weiterhin für möglich.
Bewohner von Alten- und Pflegeheimen sind besonders verletzlich. Gibt es für sie eigene Regeln?
Weil Bewohner von Behinderteneinrichtungen, Pflegeheimen oder Hospizen besonders früh und stark unter Beschränkungen gelitten haben, will der Ethikrat hier eigene Regeln. Die dort geltenden Ausgangsverbote, Besuchsund Kontakteinschränkungen sollten für die Bewohner aufgehoben werden, sobald sie geimpft sind. Angesichts der Belastungen, könne dies ethisch gerechtfertigt werden.