Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Schön, stachelig und giftig

Bundesverf­assungsger­icht weist Klagen gegen Fußfessel ab

- Von Anja Semmelroch

Nein, es geht nicht um die Rotdrossel, sondern um den Baum mit den stachelige­n Blättern, auf dem der Vogel Platz genommen hat. Denn die Stechpalme wurde am Donnerstag zum „Baum des Jahres 2021“ausgerufen. Für Menschen sind die schönen roten Beeren des Gehölzes übrigens giftig und somit ungenießba­r.

KARLSRUHE (dpa) - Der Sender sitzt in einem schwarzen Kunststoff­kästchen am Knöchel: Seit inzwischen zehn Jahren können aus der Haft entlassene Straftäter mit einer elektronis­chen Fußfessel rund um die Uhr überwacht werden. Aber ist das überhaupt mit dem Grundgeset­z vereinbar? Das Bundesverf­assungsger­icht hat sich viel Zeit gelassen, um diese Frage zu prüfen – und sie am Donnerstag recht uneingesch­ränkt mit Ja beantworte­t.

Wie funktionie­rt die elektronis­che Fußfessel?

Einmal angelegt, lässt sich die Fessel nicht mehr öffnen. Über Satelliten­signal (GPS) kann der Träger jederzeit geortet werden. An Orten ohne GPS-Empfang läuft die Ortung über die Funkmasten der Mobiltelef­one. Auf die Daten darf allerdings nur zugegriffe­n werden, wenn das System Alarm schlägt. Nach zwei Monaten müssen sie gelöscht werden. Die Fessel kann so programmie­rt werden, dass der Träger Zonen nicht verlassen oder nicht betreten darf, dafür lassen sich auch Zeiten festlegen. So kann zum Beispiel kontrollie­rt werden, dass sich jemand, der Kinder missbrauch­t hat, keinem Spielplatz mehr nähert.

Wer überwacht die Fußfesselt­räger?

Dafür gibt es eine zentrale Stelle in Hessen, die seit 2018 zum Schutz vor Anschlägen im Hochsicher­heitsgefän­gnis in Weiterstad­t untergebra­cht ist. In dieser „Gemeinsame­n elektronis­chen Überwachun­gsstelle der Länder“(GÜL) gehen sämtliche Alarmmeldu­ngen ein. Die Bewegungen der Träger sind dann auch auf einer Karte sichtbar. Im Schichtbet­rieb sind dort immer ein Justizvoll­zugsbeamte­r und ein Sozialarbe­iter in Zweierteam­s im Einsatz. Bei Alarm rufen sie den Träger in den meisten Fällen erst einmal auf dem Handy an, denn oft schwächelt nur der Akku. Wenn nötig, alarmieren sie die Polizei.

Für wen ist die elektronis­che Fußfessel gedacht?

Überwacht werden vor allem Gewaltund Sexualstra­ftäter, bei denen die Gefahr besteht, dass sie neue Taten begehen. Anlass für die Einführung war ein Urteil des Menschenre­chtsgerich­tshofs in Straßburg, das es nötig machte, bestimmte Personen aus der Sicherungs­verwahrung zu entlassen, obwohl man sie für gefährlich hielt. Seit 2017 können auch extremisti­sche Täter überwacht werden. Außerdem darf das Bundeskrim­inalamt die Fußfessel bei sogenannte­n Gefährdern einsetzen, um Terroransc­hläge zu verhindern. Auch die Polizeiges­etze einiger Länder sehen einen solchen vorsorglic­hen Einsatz vor. Ob das verfassung­sgemäß ist, wurde in dem Verfahren nicht geprüft, es ging nur um die Fußfessel für Haftentlas­sene.

Wie intensiv wird das Instrument genutzt?

Nach einer Auswertung des hessischen Justizmini­steriums aus dem Frühsommer 2020 trugen deutschlan­dweit 122 Menschen eine elektronis­che Fußfessel. Insgesamt wurden demnach seit der Einführung 269 Personen überwacht. Es gibt aber recht große Unterschie­de zwischen den Bundesländ­ern. Bayern führt regelmäßig die Statistik an. Allein dort waren nach den damaligen Angaben 30 Fußfesseln im Einsatz, gefolgt von Sachsen (17) und Mecklenbur­g-Vorpommern (16).

Wer hatte in Karlsruhe geklagt?

Ein Mörder und ein Vergewalti­ger, die beide lange im Gefängnis saßen. Der eine Mann hatte 1990 in Neubranden­burg (Mecklenbur­g-Vorpommern) eine Bekannte misshandel­t, sie zum Sex genötigt, mit einem Bajonett auf sie eingestoch­en und sie schließlic­h in einem See ertränkt. Der zweite Kläger hatte mehrere Frauen vergewalti­gt, darunter eine schwangere Arbeitskol­legin und eine 15-Jährige. Beide Täter hatten 2011 ihre Haftstrafe abgesessen, die Männer wurden im Anschluss von Gerichten in Rostock für die nächsten fünf Jahre zum Tragen einer Fußfessel verpflicht­et. Was aus ihnen wurde, ist nicht bekannt. Beide Klagen lagen fast zehn Jahre in Karlsruhe, das ist selbst bei den langen Verfahrens­dauern

am Verfassung­sgericht sehr lang.

Wie begründen die Richter ihre Entscheidu­ng?

Der Schutz der Mitmensche­n hat für sie Vorrang. Die Kontrolle dringe zwar „tief in die Privatsphä­re“ein. Die Richter ziehen auch in Betracht, dass Träger aus Scham auf Intimkonta­kte verzichten könnten. Dies sei „zum Schutz der hochrangig­en Rechtsgüte­r des Lebens, der Freiheit, der körperlich­en Unversehrt­heit und der sexuellen Selbstbest­immung Dritter gerechtfer­tigt“. Die Fußfessel ermögliche keine grundgeset­zwidrige „Rundumüber­wachung“. Die Träger würden weder ständig beobachtet noch belauscht. Es gehe nur um den Aufenthalt­sort.

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FOTO: JULIAN STRATENSCH­ULTE/DPA Programmie­rtes Betretungs­verbot: Mit der elektronis­chen Fußfessel kann zum Beispiel kontrollie­rt werden, dass sich jemand, der Kinder missbrauch­t hat, keinem Spielplatz mehr nähert.

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