Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
„Im Übrigen wird viel Unsinn geredet“
Virologe Thomas Mertens über den Nutzen von Notfallzulassungen für Impfstoffe
RAVENSBURG - Derzeit müssen die Bundesregierung und die Europäische Union viel Kritik einstecken. Bei der Zulassung von Impfstoffen seien sie zu langsam gewesen, auch die Verteilung der knappen Vakzine gehe nicht schnell genug voran. Mit Geld oder schnelleren Lizenzvergaben lässt sich die Produktion nicht beschleunigen, wie der Virologe Professor Thomas Mertens im Gespräch mit Daniel Hadrys erklärt.
Es gibt Vorwürfe, Länder wie Großbritannien seien schneller bei der Zulassung von Impfstoffen gewesen und im Nachhinein hätten die Ständige Impfkommission (StiKo) und die Europäische Arzneimittelagentur letztlich dieselben Zulassungen erteilt. Was sagen Sie dazu?
Ich kann dazu eigentlich nichts aus eigener Kenntnis sagen. Die StiKo ist weder mit Zulassung, noch Beschaffung, noch Verteilung des Impfstoffes in irgendeiner Weise befasst. Ich kenne weder Details aus den Vertragsverhandlungen der EU, noch weiß ich, was zwischen den Herstellern und anderen Ländern vereinbart wurde. Ich bin aber ein ausdrücklicher Befürworter der gemeinsamen europäischen Impfstoffbeschaffung. Unter vielem anderen auch deshalb, weil das Problem der Pandemie nicht in einem einzelnen Land gelöst werden kann. Letztlich darf man auch die Frage einer gerechten und solidarischen weltweiten Verteilung nicht völlig vergessen. Ich bin doch erstaunt, wie plötzlich die Argumente umgedreht werden. Zunächst wurde ständig die Befürchtung geäußert, dass eine zu rasche Zulassung auf Kosten der Sicherheit gehen könnte. Jetzt kann es mit allen weltweit entwickelten Impfstoffen nicht schnell genug mit der Zulassung gehen. Die EMA lässt Impfstoffe nach vorgeschriebener Prüfung zu. Die StiKo muss nach dem Infektionsschutzgesetz eine Anwendungsempfehlung für Deutschland geben. Die StiKo hat auf der Basis der vorliegenden Studienergebnisse den Astra-Zeneca-Impfstoff für die Menschen bis zum 65. Geburtstag empfohlen. Nicht weil der Impfstoff schlecht wäre, sondern weil die Daten für die Jahrgänge über 65 nicht ausreichend waren (die EMA hat übrigens einen Warnhinweis auch in ihre Zulassung aufgenommen). Bei Vorliegen neuer und belastbarer Daten kann und wird die StiKo gegebenenfalls ihre
Empfehlung anpassen. Rechtliche Grundlage des Impfvorgehens ist eine Rechtsverordnung des Bundesgesundheitsministeriums, die sich nach der StiKo richten soll, aber nicht richten muss.
Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer hat eine Notfallzulassung des Curevac-Vakzins gefordert, damit Deutschland sich rasch viele Dosen sichern kann. Wäre das überhaupt möglich und hielten Sie es für sinnvoll?
Die Phase III bei Curevac läuft noch und Ergebnisse sind mir/ uns aktuell nicht bekannt, also gibt es keine vollständigen Unterlagen für die Prüfung einer Zulassung. Die Firma Bayer hat als neuer Partner von Curevac angekündigt, dass sie die Impfstoffproduktion erst 2022 aufnehmen kann. Mir ist nicht bekannt, wie viele Impfdosen derzeit wirklich geliefert werden können. Meiner Kenntnis nach besteht auch bereits ein Vorvertrag mit Curevac.
Auch Notfallzulassungen fußen ja auf den nötigen Studien. Sollten Deutschland oder die EU deshalb verstärkt zu diesem Mittel greifen, um rasch mehr Vakzin zur Verfügung zu haben?
Wenn ausreichend Daten zur Sicherheit und Wirksamkeit vorliegen und ein entsprechender Antrag auf Zulassung in der EU, dann sollten alle Zulassungsanträge rasch geprüft werden und gegebenenfalls Zulassungen erteilt werden. Dabei ist es völlig gleichgültig, ob der Impfstoff aus Russland, China oder sonst woher stammt. Im Übrigen wird viel Unsinn geredet. Die entscheidende Steigerung der Produktionsmengen hängt derzeit weder vom „Geld“für den Impfstoff noch von Lizenzvergaben ab, sondern davon, dass es keine fertigen Produktionsstätten in Europa für einen ganz neuen mRNA-Impfstoff gibt. Der Aufbau einer neuen Produktionsstätte dauert ein Jahr (einschließlich spezialisierten Räumen, Geräten und Personal), und auch die Produktionsstätte muss (natürlich möglichst rasch) zugelassen werden (siehe oben Bayer). Die Qualität der Impfstoffe muss doch unbedingt in allen Fällen gewährleistet sein. Leider wird von dem Pfizer-Werk in den USA praktisch nichts mehr nach Europa exportiert. Da alle Hersteller von internationalen Zulieferern (Rohstoffe, Glas et cetera) abhängen, wäre übrigens auch die Schließung von Grenzen für den Warentransport sehr kontraproduktiv.