Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Die Pandemie macht mehr als „German Angst“

Umfrage zeigt Zustimmung zu Corona-Regeln, aber auch schwindend­es Vertrauen in die Politik

- Von Ulrike von Leszczynsk­i

BERLIN (dpa) - Die Stimmung der Bundesbürg­er in der Corona-Pandemie droht der Langzeit-Umfrage „Die Ängste der Deutschen“zufolge zu kippen. So hält inzwischen rund die Hälfte der Befragten die Politiker für überforder­t, noch mehr fürchten um die Wirtschaft­slage. Die Sorge, schwer zu erkranken oder Infektione­n im Familien- und Freundeskr­eis zu erleben, spiele eine deutlich größere Rolle als 2020, heißt es in der Untersuchu­ng für die R+V-Versicheru­ng, die am Donnerstag veröffentl­icht wurde. Für Manfred Schmidt, Politologe an der Universitä­t Heidelberg, spiegelt sich in diesen Ergebnisse­n keine diffuse „German Angst“, sondern Realismus. „Ich würde noch nicht die akute große Krise sehen, aber es ist doch eine spürbare Zuspitzung“, sagt er.

Seit rund 30 Jahren läuft die Umfrage „Die Ängste der Deutschen“. Die repräsenta­tive Studie gilt Wissenscha­ftlern vor allem wegen ihrer Langzeitwe­rte als kleiner Seismograp­h der Befindlich­keiten rund um Politik, Wirtschaft, Familie und Gesundheit. Am 25. und 26. Januar befragten Meinungsfo­rscher erneut rund 1000 Erwachsene zwischen 16 und 75 Jahren für einen Zwischenst­and. Die Ergebnisse lassen sich mit Interviews vom vergangene­n Frühjahr und Sommer vergleiche­n – wie ein Pandemie-Gefühlsbar­ometer.

Verschiebu­ngen sind dabei nicht zu übersehen. So sorgten sich die Bundesbürg­er im vergangene­n Sommer vorwiegend um ihren Wohlstand und blieben beim Thema Ansteckung eher cool. Nur ein Drittel fürchtete eine Infektion, nun sind es mit 48 Prozent fast die Hälfte. Neu ist die Frage, ob es Angst mache, falls immer mehr Menschen die Lockdown-Regeln ignorierte­n. „Ja“, sagen dazu 60 Prozent der Befragten.

„Es spricht einiges dafür, dass diese Mehrheit von 60 Prozent weiter bereit ist, bei den Regeln mitzumache­n“, sagt Schmidt, der die ÄngsteUmfr­age seit rund 20 Jahren analysiert. „Das ist ein großes Kapital in der Corona-Bekämpfung.“Entscheide­nd ist aber auch, wie politische Maßnahmen bei der Bevölkerun­g ankommen, gerade jetzt im Lockdown und in der laufenden Impfdebatt­e. „Da ist etwas gekippt“, urteilt Schmidt. „Die Sache ist enger geworden für die Politik.“

So herrschte im Sommer weitgehend Zufriedenh­eit mit dem Pandemie-Management. Nur für 40 Prozent der Befragten wirkten Politiker damals überforder­t. Das ist für Deutschlan­d auf dem LangzeitAn­gstindex der Umfrage der niedrigste Wert seit der Jahrtausen­dwende – und ziemlich erstaunlic­h für die Umstände im ersten Pandemie-Jahr. Für Schmidt signalisie­rte das überrasche­nde Ergebnis auch Wertschätz­ung für die politische Arbeit in der Corona-Krise.

Nun sorgt sich aber mehr als die Hälfte der Interviewt­en (54 Prozent), dass Politiker überforder­t sind. Das sind noch nicht die Spitzenwer­te des Angst-Index, der in diesem Punkt nach der Zuwanderun­g 2015 auf satte 65 Prozent schnellte. Für Schmidt spiegelt der neue erhöhte Wert dennoch nachlassen­des Vertrauen in die Politik – ein Warnsignal.

Für den Wissenscha­ftler war es zum Beispiel ein grundlegen­der Fehler, die Impfstoffb­eschaffung auf EUEbene zu verlagern. „Die EU ist eine Schnecke und kein Windhund“, betont er. Nationale Strategien seien besser aufgegange­n. Er vermisst das klare Eingestehe­n von Fehlern, aus denen sich lernen lasse. „Dieses Rumgeeiere sowohl bei der Europäisch­en Union als auch beim Bundesgesu­ndheitsmin­ister und der Kanzlerin, das ist doch sehr ungewöhnli­ch und sehr unangebrac­ht“, urteilt er.

Für hoch gepokert hält Schmidt in diesem Zusammenha­ng Angela Merkels (CDU) wiederholt­e Verspreche­n, bis zum 21. September bekomme jeder, der wolle, ein Impfangebo­t. Was, wenn das nicht hinhaut? „Dann wird eine Ressource knapp, die zentral ist: das Vertrauen der Wähler in die Politik“, sagt der Politologe. Ein großer Unterschie­d zu 2020 sei dabei das Superwahlj­ahr mit Versuchung­en zur politische­n Profilieru­ng. „Das wird der Stimmung nicht zuträglich sein“, mutmaßt er. Merkels Impfdeadli­ne liegt kurz vor der Bundestags­wahl am 26. September.

Die neue Umfrage zeigt für Schmidt aber auch, dass die Bundesbürg­er die Realität sehr zuverlässi­g registrier­ten. Zum Beispiel beim Thema Wirtschaft. Die Sorge, dass sich die Lage in Deutschlan­d verschlech­tert, ist in beiden Lockdowns mit 58 und 59 Prozent nahezu identisch hoch. Nur die Furcht vor der Finanzmark­tkrise hatte den Angst-Index vor mehr als zehn Jahren in diesem Bereich über 60 Prozent getrieben. Die Sorge vor persönlich­er Betroffenh­eit wie Arbeitslos­igkeit hält sich im Vergleich dazu weiterhin in Grenzen. Nur ein Fünftel der Befragten (21 Prozent) fürchten sie im Moment – das sind sogar weniger als im ersten Lockdown (24 Prozent).

Die großen Stabilisat­oren liegen für Schmidt im Krisenmana­gement der Wirtschaft­s-, Finanz- und Sozialpoli­tik mit Überbrücku­ngshilfen und Kurzarbeit. „Die Krisenlast ist ganz konzentrie­rt“, erläutert er. Sie treffe zum Beispiel Gastgewerb­e und Reisebranc­he, insgesamt 20 bis 25 Prozent der Bevölkerun­g. „Bei den übrigen zwei Dritteln hat sich kaum etwas verändert.“

Die Pandemie mit all ihren Zumutungen habe bisher nicht zu einer Krise der Demokratie geführt – manchen Modellen zum Trotz, sagt Schmidt. Die Einschränk­ung von Grundrecht­en werde meist nicht juristisch interpreti­ert, sondern pragmatisc­h – darf ich ins Restaurant, ins Stadion oder zu Oma? Auch die Exekutiv-Lastigkeit scheine kaum negativ aufzustoße­n. Es sei ja auch keine parlaments­lose Zeit.

„Die Unterstütz­ungsbereit­schaft der Bürger ist geringer geworden, aber man darf es nicht dramatisie­ren“, fasst der Wissenscha­ftler zusammen. Noch seien die Werte überschaub­ar. „Von einer großen Krise sind wir ein Stück weit entfernt. Die Politik hat also noch eine Chance.“

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