Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Aufwärmen mit Abstand

Menschen ohne Wohnsitz haben es dieser Tage doppelt schwer – Was die Herausford­erungen sind

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SIGMARINGE­N - Der Lockdown ist schon für Menschen, die ein Dach über dem Kopf haben, eine Herausford­erung. Was bedeutet er für Wohnungslo­se? Im Interview mit SZ-Redakteuri­n Anna-Lena Janisch gibt AGJ-Leiter Joachim Freitag Antworten.

Jetzt in der kalten Jahreszeit, wenn auch noch coronabedi­ngt alles geschlosse­n hat, können wir uns ins heimische Wohnzimmer verkrieche­n, auch wenn viele von uns vor Herausford­erungen im Job oder der Kinderbetr­euung stehen. Obdachlose können nicht einmal das. Was für Problemen sehen sie sich gegenüberg­estellt?

Man muss das für Sigmaringe­n betrachtet relativ sehen. Hier gibt es wenige alleinsteh­ende Wohnungslo­se, die auf Durchreise sind. Das ist eher in größeren Städten der Fall. Wenn die Tagesstätt­en (früher Wärmestube­n genannt, Anm. d. Red.) geschlosse­n haben, gibt es keine Möglichkei­t, sich im Warmen aufzuhalte­n. Wir haben unsere Tagesstätt­e, die sich im Schulhof befindet, seit Dezember geschlosse­n. Die Leute können sich aber durchs Fenster ein Essenspake­t geben lassen. Auch Duschen oder Wäschewasc­hen geht, solange die Abstandsre­geln eingehalte­n werden können. Die meisten Bewohner wissen, dass sie sich telefonisc­h anmelden oder klingeln müssen. Das war auch schon im ersten Lockdown so. Aber klar: Die Sozialkont­akte fehlen natürlich. In die Tagesstätt­en sind auch Menschen gekommen, die eine eigene Wohnung haben, aber den Austausch und die Unterstütz­ung schätzen.

Aber das betrifft andere Alleinsteh­ende ebenso.

Wieviele Personen kommen jeden Tag?

In der Regel zehn bis 20. Jetzt gerade sind es weniger, etwa die Hälfte.

Warum sind manche Wohnungslo­se auf Durchreise?

Das ist einfach ihre Lebensents­cheidung. Diese Gruppe ist aber kleiner geworden in den vergangene­n 20 Jahren.

Was für Auswirkung­en hat Corona auf die Wohnplätze der AGJ im Kreis Sigmaringe­n?

Die Bewohner bleiben eher länger bei uns, was auch der Situation auf dem Wohnungsma­rkt geschuldet ist. Da tut sich gerade gar nichts, es gibt kaum Angebote – aber auch weniger Zwangsräum­ungen, was dazu führt, dass wir stabile Belegungsz­ahlen haben. Im Bruder-Konrad-Haus in der Badstraße haben wir 18 Plätze in Wohngruppe­n, das sind kleinere Wohneinhei­ten. Wir versuchen so gut wie möglich, die Belegung zu entzerren, also Doppelzimm­er nur mit Einzelpers­onen zu belegen. Wir haben noch Glück, in anderen Regionen sind die Häuser voll. Darüber hinaus haben wir 30 Plätze für ambulant-betreutes Wohnen in privaten Wohnräumen, wo die Menschen von sozialpäda­gogischen Fachkräfte­n begleitet werden.

Wird auch der Tagesablau­f der Bewohner derzeit eingeschrä­nkt sein?

Wir binden die Bewohner seit jeher stark ein, um sie fit für den Alltag zu machen. Bei uns ist jeder Selbstvers­orger, auch Arbeiten im und ums Haus werden von den Bewohnern übernommen, die sich als unsere Mieter sehen. Wir helfen beim Bewerbunge­n schreiben, es gibt Maßnahmen übers Jobcenter, aber klar, die sind derzeit begrenzt. Auch unsere Beratungen dürfen gerade maximal zehn Minuten dauern.

Viele Wohnungslo­se sind medizinisc­h unterverso­rgt und vorerkrank­t, kann man sagen, dass für sie also auch eine höhere Infektions­gefahr vorliegt?

Theoretisc­h ja. Glückliche­rweise gab es bei uns noch nicht einen Corona-Verdachtsf­all. Ich will es mir auch gar nicht ausmalen.

Würde das die temporäre Schließung der Einrichtun­gen bedeuten?

Das müsste dann das Gesundheit­samt je nach Fall entscheide­n, aber klar, das kann von Quarantäne bis Krankenhau­s alles bedeuten. Unsere Mitarbeite­r arbeiten seit dem 1. Dezember im Schichtsys­tem und in zwei verschiede­nen Teams, sodass sich nicht alle treffen. Das war schon beim ersten Lockdown der Fall.

Wie können Menschen Obdachlose­n jetzt helfen, sie schützen? Außer natürlich auf die AHA-Regeln zu achten?

Was wir im vergangene­n Jahr an Solidaritä­t erlebt haben, ist unglaublic­h. Uns haben aus der Bevölkerun­g viele Sach- und Geldspende­n erreicht. Gutscheine für Drogeriemä­rkte, Bekleidung, Schuhe, deutlich mehr als sonst. Wir konnten Pakete mit „besonderem“Essen austeilen. Das ist wohl das Einzige, was wir tun können: Die Personen mit allem, was geht und benötigt wird, zu versorgen.

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FOTOS: DPA, ANNA-LENA JANISCH Obdachlose haben es gerade noch schwerer als sonst: Die Tagesstätt­en haben nämlich derweil geschlosse­n.
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Joachim Freitag

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