Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Lockdown-Verlängerung sorgt für Entsetzen
Wirtschaftsverbände reagieren mit Unmut auf die Ergebnisse des Corona-Gipfels – Erste Klagen
BERLIN - Nur die Friseure atmen auf, weil sie ab 1. März wieder öffnen dürfen. In allen anderen Branchen, die weiter geschlossen bleiben, wächst die Existenzangst weiter. Der Einzelhandelsverband HDE reagierte am Tag nach den Beschlüssen der Ministerpräsidenten mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) zur Verlängerung des Lockdowns bis zum 7. März verärgert: Das Versprechen eines Konzepts für eine sichere Öffnungsstrategie sei „leichtfertig gebrochen“worden, klagte HDE-Hauptgeschäftsführer Stefan Genth. Der Handelsverband Baden-Württemberg nannte die Beschlüsse „eine Ohrfeige ins Gesicht jedes Händlers, der bisher alle Corona-Maßnahmen und Lockdown-Verlängerungen klaglos mitgemacht und hingenommen hat“.
Pro geschlossenem Verkaufstag verlieren die Einzelhändler rund 700 Millionen Euro Umsatz, rechnete Genth vor. Jeder Fünfte befürchtet nach einer HDE-Umfrage unter 1000 Geschäften, ohne weitere Hilfen schon im ersten Halbjahr aufgeben zu müssen, ein weiteres Drittel rechnet damit im zweiten Halbjahr. Händler wollen vor Gericht gehen, weil sie – im Gegensatz zu Gaststätten und Hotels – nicht die relativ großzügigen November- und Dezemberhilfen
bekommen. Allerdings ist sich Genth im Klaren, dass Prozesse keine schnellen Ergebnisse bringen. Den Gleichbehandlungsgrundsatz verletze auch, dass Unternehmen mit mehr als 750 Millionen Euro Jahresumsatz keine Hilfen bekommen. Zudem bekämen Bekleidungsgeschäfte nur für Winterware einen Ausgleich, obwohl auch Frühjahrsmode nicht mehr zu verkaufen sei.
Die Hauptgeschäftsführerin des Handelsverbands Baden-Württemberg, Sabine Hagmann, bezeichnete die erzwungene Fortsetzung der Schließung der meisten Einzelhandelsgeschäfte als nicht nachvollziehbar. Sie verwies auf Untersuchungen, wonach das Infektionsgeschehen im Handel „deutlich unter dem Durchschnitt anderer Branchen“liege. Hagmann warb um umfangreichere staatliche Hilfen als vorgesehen: „Wenn der Handel schließen muss, obwohl er zum Infektionsgeschehen nicht beiträgt, sondern nur, um anderen Wirtschaftsbranchen eine Weiterarbeit zu ermöglichen, dann muss er für den dadurch entstehenden Schaden umfassend entschädigt werden – und das schnell. Einzig der teilweise Ersatz von Betriebskosten, wo man um jeden Cent ringen muss, sowie Kredite sind keine adäquate Entschädigung.“
Der Handelsverband Bayern will gegen die nun bis 7. März angeordneten Schließungen klagen. Auch der Unitex-Einkaufsverbund mit 800 angeschlossenen Mode-Einzelhändlern hat Eilanträge auf Wiedereröffnung angekündigt.
Auch im Deutschen Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) war die Stimmung gedämpft: Dem Dehoga stieß vor allem sauer auf, dass die Branche im Beschluss der Ministerpräsidenten mit keinem Wort erwähnt wurde. Das löse „Frust und Verzweiflung“aus, sagte Verbandspräsident Guido Zöllick. Man habe nicht mit einem konkreten Öffnungsdatum gerechnet, aber mit einer Aussage, wann und unter welchen Umständen wieder geöffnet werden dürfe. Er hoffe, spätestens eine Woche vor Ostern wieder aufmachen zu können.
Der Baden-Württembergische Handwerkstag zeigte sich zwar erfreut über die Öffnungsperspektive für die Friseure, ließ aber zugleich Unverständnis erkennen: „Insgesamt sind wir enttäuscht, dass Bund und Land trotz mehrerer Vorschläge für Öffnungsstrategien von verschiedenen Bundesländern, aber auch Branchenverbänden nicht mutiger und klarer vorangeschritten sind.“Die Ausrufung des neuen maßgeblichen Inzidenzwerts von 35 statt wie bisher 50 sei „nicht verlässlich, um nicht zu sagen: beliebig“. So werde bei Betrieben und der Bevölkerung erneut Unsicherheit darüber erzeugt, „wie lange die aktuellen Grenzwerte überhaupt Bestand haben“.
Der Präsident des Baden-Württembergischen Industrie- und Handelskammertags (BWIHK), Wolfgang Grenke, warf den Entscheidungsträgern vor, die Zeit der Ungewissheit für viele Branchen nochmals verlängert zu haben. „Tausende Soloselbstständige, Unternehmerinnen und Unternehmer aller Betriebsgrößen kämpfen ums Überleben. Geschäftsaufgaben sind traurige Realität geworden. Doch anstatt eines differenzierten Öffnungskonzeptes als Perspektive für harte Wochen von Entbehrungen und Substanzverlust steht einmal mehr viel Ungewissheit.“
Zweifel an der derzeitigen Corona-Politik kam auch von Ökonomen. „Wir müssen die Debatte führen, ob die aktuelle Strategie die richtige ist, oder ob die Schäden, die sie anrichtet, nicht überwiegen“, sagte der Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Es müsse die Tatsache berücksichtigt werden, „dass es Folgekosten wie gesundheitliche Schäden oder Existenzsorgen gibt“.
Unterdessen wächst der Pessimismus im Unternehmerlager, wie die Frühjahrsumfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) zeigt, an der sich 30 000 Firmen
beteiligten. Danach rechnen 31 Prozent in den nächsten zwölf Monaten mit schlechteren Geschäften und nur 22 Prozent mit besseren. Während die Industrie zuversichtlich ist, wächst auf dem Bau die Skepsis. Viele Dienstleister befürchten weiter dramatische Einbrüche. Sieben Prozent haben Angst vor der Pleite, unter den vom Lockdown direkt Betroffenen deutlich mehr.
Aufgrund der schlechten Stimmung rechnet der DIHK in diesem Jahr nur noch mit 2,8 Prozent Wirtschaftswachstum. Er ist damit skeptischer als die Bundesregierung, die drei Prozent für möglich hält. Das Vorkrisenniveau werde wohl erst im dritten Quartal 2022 erreicht. Getragen wird die Konjunktur vom privaten Konsum, während es im Export nur mäßige Zuwachsraten geben dürfte. Die Zahl der Erwerbstätigen soll nach dem Einbruch 2020 stagnieren.
Angesichts der schweren Kritik kündigte Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) am kommenden Dienstag einen „Wirtschaftsgipfel“an. Wie eine Sprecherin am Donnerstag sagte, wolle Altmaier mit mehr als 40 Verbänden über die aktuelle Lage der Wirtschaft, die Beschlüsse von Bund und Ländern, die Wirtschaftshilfen und mögliche Öffnungsperspektiven sprechen. Wirtschaftsverbände hatten einen solchen „Gipfel“seit Längerem gefordert.