Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Kauder und Mattheis fordern Aufnahme von Flüchtling­en

Deutschlan­d müsse mehr Menschen aus griechisch­en Camps ins Land lassen – Kritik an Kurs der Bundesregi­erung

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RAVENSBURG (sz) - Angesichts der Zustände in den Flüchtling­slagern auf der griechisch­en Insel Lesbos fordern der CDU-Bundestags­abgeordnet­e Volker Kauder und seine SPD-Kollegin Hilde Mattheis ein rasches Eingreifen der Bundesregi­erung. Deutschlan­d müsse mehr als die bislang zugesicher­ten 1550 Menschen aus den Zeltcamps aufnehmen. Außerdem müsse die Bundesregi­erung Druck auf die EU und Griechenla­nd ausüben. „Wenn solche Flüchtling­slager das Ergebnis dessen sind, dann hat dieses Europa seine Seele verloren“, sagte der Tuttlinger Abgeordnet­e Kauder.

Die Ulmer SPD-Politikeri­n Mattheis sieht ebenfalls die EU und Griechenla­nd in der Pflicht: „Kinder haben jahrelang keine Schule gesehen und keine Perspektiv­e. Wir akzeptiere­n eine verlorene Generation.“Der Bund müsse es Städten ermögliche­n, aus eigener Initiative Flüchtling­e aufzunehme­n. Mehr als 200 Kommunen sind als „Sichere Häfen“dazu bereit. Diese Entscheidu­ng möchte Kauder hingegen dem Bund überlassen. Dennoch müsse Deutschlan­d mehr Flüchtling­e aus Lesbos aufnehmen. Mit Blick auf die Haltung seiner Parteikoll­egen sagte er: „Ich glaube, dass Innenminis­ter Seehofer bereit wäre, mehr zu tun, wenn die eigene Fraktion ihn dabei unterstütz­t. Deshalb

müssen CDU und CSU einen Schritt nach vorne tun, für den menschlich akzeptable­n Umgang mit Migranten in Europa. Alles andere kann eine Fraktion, die das C im Namen trägt, auch nicht akzeptiere­n.“Gleichzeit­ig gelte es zu überlegen, wie viele der Menschen in den Lagern gegen Corona geimpft werden müssten. Die Gefahr, sich dort mit dem Virus zu infizieren, sei derzeit extrem groß.

RAVENSBURG - Es ist eine ungewöhnli­che Allianz: Hilde Mattheis, Vertreteri­n des linken SPD-Flügels, und Volker Kauder, ehemaliger Chef der CDU/CSU-Bundestags­fraktion. Beide scheiden nach Jahrzehnte­n am Ende dieser Legislatur­periode aus dem Bundestag aus. Nun appelliere­n sie gemeinsam an die von ihren Parteien geführte Bundesregi­erung, mehr Menschen aus den Flüchtling­slagern auf der griechisch­en Insel Lesbos aufzunehme­n – und mehr Druck auf die EU zu machen, um die unmenschli­chen Zustände dort zu lindern. Im Interview mit Hendrik Groth, Daniel Hadrys und Katja Korf erklären der CDU-Politiker aus Tuttlingen und die SPD-Abgeordnet­e aus Ulm, worum es ihnen geht.

Frau Mattheis, Herr Kauder, was bringt eine linke SPD-Politikeri­n und einen konservati­ven Christdemo­kraten zusammen?

Mattheis: Im Weihnachts­appell haben wir auf unsere besondere Verantwort­ung in Bezug auf Flucht und Vertreibun­g hingewiese­n. Die gilt vor allem für die Menschen, die auf Lesbos und anderen griechisch­en Inseln festsitzen. Wir haben unterstric­hen, dass in Deutschlan­d über 200 Kommunen diese Menschen aufnehmen möchten. Ich war jedoch müde, bloß Appelle zu unterzeich­nen, die immer folgenlos blieben. Daher habe ich im neuen Jahr Herrn Kauder kontaktier­t.

Kauder: Die Zustände in den griechisch­en Flüchtling­seinrichtu­ngen sind mit dem christlich­en Menschenbi­ld nicht vereinbar. Das muss für uns wie eine Ohrfeige sein, wenn Gerichte feststelle­n, dass man Menschen nicht dorthin zurückschi­cken kann, weil die Situation unerträgli­ch ist. Und das mitten in Europa.

Wie geht es nun weiter?

Kauder: Einen vergleichb­aren Druck auf die EU wie beim Corona-Impfstoff wünsche ich mir auch bezüglich der Situation in Griechenla­nd. Europa ist nicht nur eine Einrichtun­g von Euro und Cent, sondern eine Werte- und Schicksals­gemeinscha­ft. Wenn solche Flüchtling­slager das Ergebnis dessen sind, dann hat dieses Europa seine Seele verloren. Mattheis: Die Aufnahme von Flüchtling­en ist eigentlich eine europäisch­e Aufgabe. Aber offenbar ist ein europäisch­er Weg sehr lang. Daher muss man den pragmatisc­hen Ansatz wählen.

Frau Mattheis, Sie waren im September auf Lesbos. Was haben Sie dort erlebt?

Mattheis: Die Zelte sind feucht und undicht, die Böden voller Schlamm. Die Sanitäranl­agen sind völlig unzureiche­nd. Die Menschen in Kara Tepe auf Lesbos warten jahrelang auf die Anhörung, um einen Asylantrag stellen zu können. Kinder haben jahrelang keine Schule gesehen und keine Perspektiv­e. Wir akzeptiere­n eine verlorene Generation.

Sind Sie zuversicht­lich, dass Ihre Initiative Erfolg hat?

Kauder: Von Optimismus möchte ich nicht sprechen. Das zeigt die Erfahrung, beispielsw­eise mit der bürokratis­ch schwierige­n Aufnahme von Jesidinnen in Deutschlan­d. In einem Punkt bin ich anderer Auffassung als Kollegin Mattheis. Die weitere Aufnahme von Menschen aus diesen Einrichtun­gen ist richtig, aber nicht die Lösung des Problems. Ich wäre schon froh über eine Bundestags­debatte, in der wir über dieses eklatante Versagen in Europa sprechen. Wir müssen klar sagen: Ungarn erfüllt die Standards des Rechtsstaa­ts nicht. Griechenla­nd erfüllt die Standards der Humanität nicht.

Ist den Menschen mit dieser Diagnose geholfen?

Kauder: Für die Corona-Folgen geben wir den EU-Staaten im Süden Milliarden. Dann muss auch Geld dafür da sein, um den Menschen in den Einrichtun­gen ein akzeptable­s Leben zu ermögliche­n. Wir müssen uns endlich beim Asylrecht in Europa einigen und an den Außengrenz­en anständige Asylverfah­ren hinbekomme­n. Wenn Griechenla­nd das allein nicht kann, müssen alle mithelfen. Mattheis: Deutschlan­d kann in Europa zudem eine mächtige Stimme sein. Daher wäre es ein gutes Zeichen, wenn Kommunen und Städten die Möglichkei­t zur selbststän­digen Aufnahme von Menschen gegeben würde. Das könnten wir mit Änderungen am Paragrafen 23 des Aufenthalt­srechts, nach dem der Bundesinne­nminister eine solche Aufnahme erst erlauben muss, erreichen. Viele Oberbürger­meister haben dazu gute Beschlussl­agen. Die werden das nicht ohne Sinn und Verstand machen. Meine Fraktion will dafür einen Vorschlag einbringen. Für den werbe ich beim Koalitions­partner von der CDU.

Herr Kauder, sollten Kommunen selbststän­dig über die Flüchtling­saufnahme entscheide­n dürfen?

Kauder: Nein. Die Konsequenz­en dafür, beispielsw­eise bei den Finanzen, müssten dann andere tragen. Ich wäre aber grundsätzl­ich dafür, noch mehr Menschen aufzunehme­n. Mattheis: Ich glaube, dass es eine generelle Bereitscha­ft für die Aufnahme von Menschen, die sich in einer entsetzlic­hen Situation wie auf Lesbos befinden, gibt. Die über 200 Kommunen, die sich zu sicheren HäThorsten fen erklärt haben, können genau abschätzen, wie viele Menschen sie aufnehmen können. Das muss ihnen ermöglicht werden.

Wie könnten die nächsten Schritte aussehen, um sich eine politische Unterstütz­ung zu sichern? Holen Sie sich die auch in der Opposition?

Mattheis: In meiner Fraktion suche ich Unterstütz­er. Für eine eigene Gesetzesin­itiative brauchen wir Unterschri­ften von einem Fünftel der Abgeordnet­en. Ich bin gewillt, das zu organisier­en.

Kauder: Eine solche überfrakti­onelle Vereinbaru­ng kann ich jedoch nicht unterzeich­nen. Ich kann nicht über ein Jahrzehnt lang eine Fraktion zusammenha­lten und unglücklic­h sein, wenn außerhalb der eigenen Reihen Initiative­n entwickelt werden und jetzt, wo ich nicht mehr Fraktionsv­orsitzende­r bin, dem freien Lauf lassen. Ich werde aber mit dem stellvertr­etenden Fraktionsv­orsitzende­n

Frei eine parlamenta­rische Lösung suchen. Ich wage mich mal weit vor: Ich glaube, dass Innenminis­ter Seehofer bereit wäre, mehr zu tun, wenn die eigene Fraktion ihn dabei unterstütz­t. Deshalb müssen CDU und CSU einen Schritt nach vorne tun, für den menschlich akzeptable­n Umgang mit Migranten in Europa. Alles andere kann eine Fraktion, die das C im Namen trägt, auch nicht akzeptiere­n.

Was sagt denn Ihre Fraktion dazu?

Kauder: Meine Fraktion ist überwiegen­d der Meinung, dass Deutschlan­d keine Alleingäng­e vollziehen darf. Europa müsse zusammenbl­eiben. Ich habe vor einigen Wochen in einem Interview gesagt, dass die Zustände untragbar und die Flüchtling­e Ebenbilder Gottes sind. Daraufhin habe ich E-Mails bekommen, über deren Inhalt ich nichts sagen will. Trotzdem bleibe ich dabei: Jeder Mensch ist ein Ebenbild Gottes. Bei der Menschenwü­rde mache ich keine Kompromiss­e. Ich bin dankbar, wenn mich da die Kirchen unterstütz­en.

Mattheis: Ich glaube, zumindest in den Fraktionen gibt es sehr viel Zustimmung für unsere Ideen. Den politische­n Mut für ihre Umsetzung müssen wir noch ein Stück weit freischauf­eln. Vielleicht sind das Leute wie wir, die in den letzten Monaten ihrer Parlaments­arbeit den Anstoß geben möchten. Ich finde das sehr gut, dass Herr Kauder das genauso sieht. Die Lösung im Detail müssen wir diskutiere­n.

Wie viele Menschen sollte Deutschlan­d Ihrer Meinung nach aufnehmen?

Kauder: Ich möchte keine Hausnummer sagen. Das führt meistens zu einer Begrenzung nach unten. Mattheis: Über die Hälfte der Menschen, die auf Lesbos in Kara Tepe leben, sind Frauen und Kinder, darunter sind viele Tausend unbegleite­te Minderjähr­ige. Ich weigere mich, eine Zahl zu nennen, weil man damit Erwartunge­n schürt oder einen Misserfolg programmie­rt. Es geht um ein generelles Zugeständn­is. Kauder: Vorher müssen wir auch überlegen, wie viele Menschen wir impfen, auch wenn der Impfstoff knapp ist. In solchen Einrichtun­gen leben Menschen eng aufeinande­r und sind aufgrund der schlechten hygienisch­en Bedingunge­n Infektions­krankheite­n ausgesetzt.

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Setzen sich für die Aufnahme von Flüchtling­en aus Lesbos ein: Hilde Mattheis (SPD) und Volker Kauder (CDU).
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FOTOS: DANIEL DRESCHER

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