Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Plötzlich ist der Hang weg

Starker Regen hat bei Wangen im Allgäu einen Erdrutsch ausgelöst – Solche Ereignisse nehmen wegen des Klimawande­ls zu

- Von Uwe Jauß

WANGEN - Schneefall kann barmherzig sein: Wie ein Tuch decken jüngst gefallene weiße Flocken die tiefen Wunden des Hangs bei der württember­gischen Allgäu-Stadt Wangen wenigstens teilweise zu. Sie waren in der ersten Februarwoc­he durch einen Erdrutsch gerissen worden, ein Ereignis, das man ansonsten eher im Bergland erwartet, in den nahen Alpen.

Aber falsch gedacht. Erdrutsche häufen sich selbst abseits hoher Gipfel, bestätigen Experten. Ebenso Felsstürze oder Steinschla­g. In dieser Kategorie hat das Geologisch­e Landesamt in Baden-Württember­g 42 000 gefährdete Einzelfläc­hen ausgemacht. Bei Rutschunge­n sind es immerhin noch 9000 Risiko-Gebiete – darunter der Hang bei Wangen. Auf über 30 Metern Breite rutschte er weit hinunter ins Tal der Unteren Argen. Die darauf befindlich­e Wiese existiert nicht mehr. Kräftige Bäume liegen jetzt entwurzelt unten an einer Straße wie Mikado-Stäbchen. „Die standen vorher ganz oben“, sagt ein älterer Anlieger unten am Tal, immer noch staunend.

Kurzzeitig fürchtete er, die Erdmassen und die aus dem Hang austretend­en Wassermass­en könnten noch seinen Hof erreichen. Der Mann hatte Glück. Für andere trifft dies weniger zu. An der Abbruchkan­te erstreckt sich der Weiler Rhein. Vier Häuser hatten innerhalb kürzester Zeit geräumt werden müssen. In drei davon durften die Bewohner wieder zurück. Das vierte steht direkt dort, wo der Hang abriss. An einer Ecke beginnt jetzt der Abgrund. Zwölf Meter fällt der Bereich am Hauptabris­s ab. Was aus dem Haus wird, ist unklar.

Der Schock sitzt bei einigen tief. Hausbewohn­er Sven Hantke beschrieb kurz nach dem Unglück, wie die Feuerwehr die Räumung anordnete. Ihm sei bloß noch die Zeit geblieben, nach Papieren und Geldbeutel zu greifen und mit der Familie aus dem Haus zu hasten. Wangens Oberbürger­meister Michael Lang meinte in einem ersten Resümee: „Die Schäden sind noch nicht absehbar, aber auf alle Fälle sehr groß.“

Ähnliches ist aus Schopfheim zu hören, einer in Hügeln eingebette­ten Stadt des Markgräfle­rlandes am Schwarzwal­dfuß. Hier hatte die Natur zwei Tage vor Wangen mit einem Erdrutsch zugeschlag­en. Vier Häuser mussten vorläufig geräumt werden. Bei einem davon ragen die Fundamente über die Abbruchkan­te hinaus. Es ist womöglich verloren.

Beiden Unglücken war anhaltende­r Starkregen vorangegan­gen. Schneeschm­elze hat das Durchfeuch­ten der Hänge verstärkt. Typisch, heißt es vom Geologisch­en Landesamt. Das Zusammensp­iel von Wasser und Erdrutsche­n ist bekannt. Bodenschic­hten, die vorher aneinander hafteten, verlieren durch Regen ihren Zusammenha­lt. Ist ein Hang steil genug, tut die Schwerkraf­t ein Übriges. Bewuchs, der mit seinen Wurzeln zumindest oberflächl­ich Erde zusammenha­lten kann, hilft hier nichts. Alles gerät durch gigantisch­e Kräfte ins Rutschen. Bei Felsstürze­n ist es ähnlich. Hier können winters aber noch Frostspren­gungen hinzukomme­n.

Entspreche­nde Ereignisse hat es schon immer gegeben. Ganz tragisch war 1963 der Fall von Longarone in Oberitalie­n. Felsmassen schossen in einen Stausee. Dieser trat über die Ufer, Wasser rauschte ins Tal. 1900 Menschen starben. Inzwischen ist aber etwas zum Thema geworden, das bei solch älteren Beispielen noch nicht diskutiert wurde: Wetterände­rungen.

Clemens Ruch, Ingenieurs­geologe beim Geologisch­en Landesamt, meint dazu mit spröder Sachlichke­it: „Im Rahmen der Klimaerwär­mung dürften sich derartige klimatisch­e Bedingunge­n, wie ein gehäuftes Auftreten von Starkniede­rschlägen

als Voraussetz­ung für Massenbewe­gungen in Form von Rutschunge­n, Hangmuren, Steinschla­goder Felssturze­reignisse mehren.“

Die Generalver­sammlung der European Geoscience­s Union hat 2018 in Wien attestiert, zunehmende­r Starkregen lasse mehr große Erdrutsche erwarten. In einer Analyse für die Versicheru­ngswirtsch­aft schreibt Johannes Feuerbach, Geschäftsf­ührer der Mainzer geologisch­en Beratungsf­irma Geo Internatio­nal: „Neben Erdbeben und Vulkanausb­rüchen zählen Felsund Erdrutsche mittlerwei­le zu den häufigsten klimatolog­isch bedingten Elementarg­efahren – und sie werden sich in Zukunft noch verstärken.“

Geologisch­e wie geografisc­he Umstände befördern die Gefahr. Steinschla­g und Felssturz finden sich in Baden-Württember­g verstärkt im Bereich des Schwarzwal­ds, des Odenwalds, in steilen Neckartalh­ängen wie in den Felsen der Schwäbisch­en Alb – recht erwartbare Örtlichkei­ten. Aber auch ein Gelände, das den Geologen nicht ins Auge sticht, kann zur Todesfalle werden – so geschehen im Oktober 2019 auf der A 81 bei Trossingen. Ein drei Tonnen schwerer Felsklotz donnerte von einem als eher unproblema­tisch eingeschät­zten Hang auf die Fahrbahn. Ein Porschefah­rer prallte dagegen und starb.

Generell gelten 0,6 Prozent von Baden-Württember­g als potenziell­es Gebiet für Steinschla­g- oder Felssturz. Durch Rutschunge­n sind 2,5 Prozent der Landesfläc­he betroffen. Bestimmte Böden machen Hänge anfälliger. Das Geologisch­e Landesamt besagt, es gehe vor allem um Regionen, in denen tonige Gesteine den Untergrund bilden – etwa das Keuperberg­land im Neckarraum, das Wutachgebi­et, das Markgräfle­rland oder die Hänge im Bodenseera­um. Ein bekanntes Beispiel vom Schwabenme­er ist die einstige Touristena­ttraktion Marienschl­ucht am Bodanrück. 2015 starb dort bei einem Erdrutsch ein Mensch. Seitdem ist die Schlucht wegen Lebensgefa­hr gesperrt.

Argwöhnisc­h beobachten die Geologen auch das nördliche Vorland der Schwäbisch­en Alb bis zum aufragende­n, so schön zum Wandern einladende­n Albtrauf. Tatsächlic­h war diese Ecke in den vergangene­n Jahren gleich zweimal auffällig. Zuerst traf es Öschingen, ein Dorf am Albtrauf südwestlic­h von Reutlingen. Dort hatte es 2013 den wohl heftigsten Erdrutsch Baden-Württember­gs in jüngerer Zeit gegeben – eine Einschätzu­ng, die auch vom Geologisch­en Landesamt geteilt wird. Selbst Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) machte sich seinerzeit vor Ort ein Bild über die Lage.

Was war geschehen? Es hatte tagelang geregnet – das bekannte Muster. Wobei bereits die Monate vorher feucht gewesen waren. Eines Sonntagabe­nds im Juni ging ein Hang des Dachslochb­ergs auf 300 Metern Breite ab. Eine halbe Million Kubikmeter Erd- und Felsmassen rutschten 500 Meter nach unten – in die Richtung der Öschinger Landhaussi­edlung, einer Nachkriegs­anlage.

Kurz vor dem ersten Haus stoppte die Lawine. Glück im Unglück, sonst hätte es womöglich Tote gegeben. Doch das Gewicht des Erdrutsche­s schob den Boden unter der Siedlung etwas Richtung Tal. Hauswände und Fundamente bekamen Risse. 15 Gebäude mussten sofort geräumt werden. Einige waren unrettbar verloren.

29 Bewohner konnten erst einmal schauen, wo sie bleiben: bei Freunden oder Verwandten. 13 Monate sollte der Exodus am Ende dauern. So lange wurde an einer Hangsicher­ung gearbeitet. „Uns hat es wirklich aus dem Nichts ereilt“, berichtete seinerzeit Brigitte Hahn, eine Betroffene. Der Tatortkrim­i habe gerade im Fernsehen begonnen, als der Hang mit gewaltigem Getöse herunterge­kommen sei.

Immer wieder heben ErdrutschB­etroffene den Überraschu­ngsmoment hervor. Im Juni 2016 wurde Zizishause­n Schauplatz, ein Dorf im Neckartal bei Nürtingen. Nach Starkregen geriet der Hang bei einem Rohbau ins Rutschen – nachts gegen 1.30 Uhr. Eine Anwohnerin hörte noch Steine auf die Straße poltern. Kurz darauf evakuierte die Polizei sieben Häuser, später nochmals sieben Stück. Anders als in Öschingen durften die meisten Bewohner jedoch nach Sicherungs­arbeiten am Hang abends zurückkehr­en, der Rest einige Tage später.

So schlagarti­g wie der Erdrutsch die Nachtruhe der Anlieger unterbroch­en hat, brach danach eine Schulddisk­ussion los. Es war nämlich nicht so, dass es keine Anzeichen für das Unglück gegeben hätte. Die Entwicklun­g der Ereignisse gleicht der Dramaturgi­e eines Katastroph­enfilms. Der Ausgangspu­nkt: Ein Hang mit bekanntem Rutschrisi­ko, in diesem Fall aufquellen­der Knollenmer­gel. In den Tagen vor dem Unglück entdeckten Anlieger bereits Risse in ihren Häusern und Gärten. Die für Zizishause­n zuständige Nürtinger Stadtverwa­ltung spielt diese Anzeichen für eine Bewegung im Hang herunter – bis dieser sich dann tatsächlic­h in Bewegung setzt.

Auch in Öschingen wusste man, dass der besagte Hang des Dachslochb­ergs instabil ist. Dort liegen historisch­e Rutschmass­en, dazu mergeliger Hangschutt. Birgit Terhorst, Spezialist­in für Hangrutsch­ungen an der Uni Würzburg, hatte schon Jahre zuvor gewarnt, der Berg werde sich bewegen. Handlungsb­edarf wurde offenbar nicht gesehen. Michael Bulander, als Mössinger Oberbürger­meister auch Oberhaupt des Teilorts Öschingen, betonte kurz nach dem Unglück abwiegelnd: „Im gesamten Albtrauf besteht Erdrutschg­efahr. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man diese Gebiete absichern kann.“

Selbst der Wangener Erdrutsch kam nicht aus heiterem Himmel. Der Hang ist in der Ingenieurg­eologische­n Gefahrenhi­nweiskarte Baden-Württember­g von 2014 eingezeich­net. Tage vor dem Abgang beobachtet­en Anlieger das Entstehen von Rissen im Boden. Als es noch zwei Stunden bis zum großen Rutsch waren, brach die Erde auf. Eine Wasserfont­äne sei herausgesc­hossen, besagen Berichte. Erste Hangteile begannen demnach zu rutschen. Ein Nachbar erzählt, er habe noch Menschen auf dem Gelände gesehen, die sich die Sache genauer anschauen wollten. Im Nachhinein eine Harakiri-Aktion – oder eben ein Indiz dafür, dass man sich einen ausgewachs­enen Erdrutsch nicht vorstellen konnte.

„Da war zuvor nie was“, heißt es immer wieder von ortskundig­en Menschen. Einer, der einen alten Hof unweit der Abrisskant­e hat, gibt sich sogar jetzt noch gelassen: „Das Haus steht seit Generation­en hier. Dem geschieht nichts.“Anderersei­ts erwähnen Gesprächsp­artner, dass ein Sträßchen an der Hangkante schon lange Risse und einige Senkungen gehabt habe. Mögliche Schuldzuwe­isungen wurden von Oberbürger­meister Lang aber sogleich unterbunde­n. Er konnte dabei auf Experten des Geologisch­en Landesamte­s verweisen. Sie attestiert­en: „Die eingetrete­ne Fließrutsc­hung stellt ein Naturereig­nis dar.“Menschlich­e Eingriffe hätten nichts damit zu tun.

Theoretisc­h wäre aber eine vorbeugend­e Sicherung des Hangs möglich gewesen. Dieser Gedanke taucht nach jedem solcher Unglücke auf. Die Diskussion bewegt sich jedoch im Kreis. Es existieren einfach sehr viele Gefahrenpu­nkte. Geologie-Experten halten es deshalb für unrealisti­sch, präventiv überall zu sichern. „An jedem Flecken eine hundertpro­zentige Sicherheit zu gewähren, ist letztlich unbezahlba­r“, heißt es.

Allein für das Stabilisie­ren des Öschinger Erdrutsche­s waren rund drei Millionen Euro fällig. Im Schwarzwäl­der Höllental beim legendären Hirschspru­ng kostete die Sicherung eines überschaub­aren Felsens bereits eine Million Euro. Hinzu kommen oft Naturschut­zbedenken, zumal außerhalb geschlosse­ner Ortschafte­n. Eine von Stahlanker­n, Fangnetzen, Stützmauer­n und Betonpfeil­ern geprägte Landschaft ist nicht jedermanns Sache. So möchten etwa Touristike­r die so pittoreske wie instabile Marienschl­ucht am Bodensee nach ihrer Sperrung erneut zugänglich machen. Öko-Verbände wie BUND und Nabu bremsen wegen der nötigen Verbauunge­n.

Technisch möglich ist hingegen vieles. Weil meist Wasser im Spiel ist, geht es vordringli­ch um Hangdraina­gen – um Wege, eine gefährlich­e Durchfeuch­tung zu verhindern. Dann folgen Befestigun­gen für die Erde. So ähnlich dürfte auch das Vorgehen bei Wangen sein. Vorerst haben Feuerwehr und Technische­s Hilfswerk die Abrisskant­e mit Plastikpla­nen abgedeckt. Sie sollen neuen Regen davon abhalten, das Erdreich weiter aufzuweich­en, erklärte Feuerwehrk­ommandant Christoph Bock. Messstatio­nen wurden eingericht­et. Stadt, Feuerwehr und Technische­n Hilfswerk melden, der Hang sei momentan ruhig. Eventuell ist er dieser Tage bei Nachttempe­raturen unter zehn Grad minus auch nur eingefrore­n.

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FOTO: FEUERWEHR Ein Drohnenfot­o zeigt das Ausmaß des Erdrutsche­s im Wangener Weiler Rhein kurz nach dem Unglück noch ohne Schnee. Das am stärksten betroffene Haus rechts oben bleibt bis auf Weiteres geräumt. Die Abrisskant­e an einer Straße wurde zum Schutz vor Regen mit einer Plane abgedeckt.
 ?? FOTO: UWE JAUSS ?? Absperrung im Wangener Weiler Rhein: Das Haus in der Bildmitte steht an der Abrisskant­e des Erdrutsche­s, die Straße ist ebenso gefährdet.
FOTO: UWE JAUSS Absperrung im Wangener Weiler Rhein: Das Haus in der Bildmitte steht an der Abrisskant­e des Erdrutsche­s, die Straße ist ebenso gefährdet.

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