Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Die Corona-Apotheke der EU
Warum so viel Impfstoff aus Belgien kommt – Astra-Zeneca und der US-Konzern Pfizer setzen auf das kleine Königreich
SENEFFE/PUURS (dpa) - Der Ort, der maßgeblich zum Sieg über das Coronavirus beitragen soll, wirkt ziemlich trist. Graue Container reihen sich aneinander, in der Nähe raucht ein Schornstein. Doch am Rande des Industriegebiets der belgischen Stadt Seneffe, im Werk des US-Laborausrüsters Thermo Fisher, wird ein entscheidender Bestandteil des AstraZeneca-Impfstoffs gegen Covid-19 hergestellt. „Unser Land steht heute dank seines Beitrags zur Entwicklung, Produktion und Verteilung von Coronavirus-Impfstoffen im Zentrum der weltweiten Impfmaßnahmen“, sagte König Philippe Ende Januar. „Hierauf können wir stolz sein.“Zugleich betonte er: „Die ganze Welt schaut auf uns und zählt auf uns.“Und wie in den vergangenen Wochen deutlich wurde, gerät das Land mit seinen 11,5 Millionen Einwohnern ganz besonders ins Blickfeld, wenn es bei der Impfstoff-Produktion mal hakt.
Zwei der drei in der EU zugelassenen Impfstoffe werden in großen Teilen in Belgien hergestellt. Neben Astra-Zeneca setzt auch der USKonzern Pfizer auf das Königreich. Und das britische Unternehmen GSK will einen seiner größten Standorte im belgischen Wavre nutzen, um Curevac bei der Impfstoff-Produktion zu unterstützen. Viele Gründe sprechen für den Standort Belgien.
Die Pharmaindustrie investiert in Belgien jedes Jahr mehr als 1,5 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung. Das entspricht 40 Prozent aller privaten Forschungsinvestitionen in dem Land – belgischen Behörden zufolge ist das etwa doppelt so viel wie der europäische Durchschnitt. Die Zahl der Forschenden und Beschäftigten in der Branche ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen, wie Auswertungen des belgischen Pharmaverbandes zeigen. Mehr als zehn Prozent aller belgischen Exporte sind Pharmazeutika.
Knapp eine Autostunde nördlich von Seneffe, im Herzen Flanderns, liegt die Gemeinde Puurs-SintAmands. Dort produziert Pfizer nach eigenen Angaben 400 Millionen Impfdosen und injizierbare Medikamente
pro Jahr. In dem Werk verarbeitet und veredelt der BiontechPartner auch den mRNA-Wirkstoff, etikettiert, verpackt und lagert Ampullen und Fläschchen mit dem Covid-19-Impfstoff in besonderen Gefrierschränken. Jüngst war das Werk wegen umbaubedingter Lieferverzögerungen in den Schlagzeilen.
Die Geschichte von Pfizer in dem kleinen Örtchen reicht zurück bis ins
Jahr 1963, als sich das Pharmaunternehmen Upjohn, das später von Pfizer übernommen wurde, in Puurs niederließ. Heute ist das Werk in der 26 000-Einwohner-Gemeinde einer der größten Produktions- und Verpackungsstandorte von Pfizer weltweit. Wie Pfizer auf Anfrage mitteilt, investiert das Unternehmen vor allem aufgrund des technologischen Know-hows der Mitarbeiter und des hohen Niveaus der Forschung in die Region. Auch die zentrale Lage innerhalb Europas spielt eine Rolle.
„In einer halben Stunde sind Sie sowohl am Brüsseler Flughafen als auch im Hafen von Antwerpen“, sagt der Bürgermeister der Gemeinde Puurs-Sint-Amands, Koen Van den Heuvel. Für den Christdemokraten und ehemaligen Umweltminister Flanderns ist die florierende Pharmaindustrie ein Segen. 5000 Arbeitsplätze bringen die ansässigen Pharmaunternehmen seiner Gemeinde, allein 3000 sind es bei Pfizer, 200 weitere Mitarbeiter sollen dem Unternehmen zufolge in Kürze eingestellt werden. „Die Arbeitslosenquote in Puurs ist eine der niedrigsten in der Provinz Antwerpen“, sagt Van den Heuvel.
Der Politiker macht keinen Hehl aus seinen Beziehungen zur Pharmaindustrie. „Wenn Pfizer um etwas bittet, tut die Stadt ihr Bestes, um es zu erfüllen“, sagt er. Dem Unternehmen sei etwa eine Straße verkauft worden, damit es zwei seiner Standorte verbinden konnte. Als es 2013 zwei Windkraftanlagen aufstellen wollte, wurden diese problemlos genehmigt, ebenso wie kürzlich ein klobiger Parkturm. „Gelegentlich werde ich kritisiert, dass wir den Bedürfnissen von Pfizer zu bereitwillig nachgeben. Aber für eine solche Ikone, die so vielen unserer Familien Arbeitsplätze bietet, ist etwas Wohlwollen erlaubt“, sagt Van den Heuvel.
Belgien ist seit vielen Jahrzehnten ein beliebter Standort auch für andere Pharmakonzerne. Mit der Niederlassung von Unternehmen wie Janssen
Pharmaceutica, das Teil des amerikanischen Konzerns Johnson und Johnson ist, hat sich seit den 1950erJahren die Zusammenarbeit von Wirtschaft, Politik und Forschungseinrichtungen intensiviert, erklärt David Gering vom belgischen Pharmaverband. Auch Johnson und Johnson gehört zu den sechs Firmen, die einen Liefervertrag über CoronaImpfstoffe mit der Europäischen Union haben.
Gering zählt viele Vorteile auf, die Pharmaunternehmen auf belgischem Boden haben: So profitierten Unternehmen, die in Forschung und Entwicklung investieren, von Steuervergünstigungen. Bei klinischen Studien seien die Wartezeiten bei der Genehmigung von Anträgen deutlich kürzer als andernorts. Mit mehr als 70 Krankenhäusern mit hoch qualifiziertem Personal sei eine sehr gute Infrastruktur gegeben. Und beim Export profitierten die Unternehmen von der zentralen Lage des Landes in Europa und von modernen Flughäfen. König Philippe sieht eine „bemerkenswerte Zusammenarbeit zwischen Behörden und Universitäten, zwischen dem öffentlichen Sektor und der Industrie“.
Doch geht auch im Pharmaland Belgien bisweilen einiges schief. Sowohl Biontech/Pfizer als auch AstraZeneca kündigten zuletzt überraschend Verzögerungen bei den Lieferungen in die EU-Staaten an, und in beiden Fällen hieß es: Produktionsprobleme in Belgien. Die großen Hoffnungen, die auf den belgischen Werken ruhen, werden mitunter also auch enttäuscht.
„Wenn Pfizer um etwas bittet, tut die Stadt ihr Bestes, um es zu erfüllen.“
Koen Van den Heuvel, Bürgermeister von Puurs-Sint-Amands