Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Trotz steigender Fallzahlen öffnen Schulen
Grundschullehrer und Kita-Beschäftigte sollen in Impfreihenfolge nach vorne rutschen
BERLIN (dpa) - Die Sorge vor einer dritten Corona-Welle in Deutschland wächst. Zwar kehren an diesem Montag in zehn weiteren Bundesländern viele Kinder in Kitas und Grundschulen zurück. Zeitgleich zeigt die Kurve der Neuinfektionen erstmals seit Wochen wieder nach oben – trotz des seit Mitte Dezember geltenden strengen Lockdowns. Bildungsgewerkschaften warnen vor Gesundheitsgefahren. Auf der anderen Seite wird auf negative Folgen für Kinder und Eltern verwiesen, sollten die Einschränkungen an Kitas und Schulen noch länger dauern.
Am Wochenende verdichteten sich die Anzeichen dafür, dass Grundschullehrer und Kita-Beschäftigte in der Impfreihenfolge nach vorne rutschen könnten. Mehrere Ländervertreter, Gesundheitsminister Jens Spahn und Bildungsministerin Anja Karliczek (beide CDU) befürworten das.
Spahn hatte am Samstag angekündigt, man wolle die Beschäftigten an Kitas und Grundschulen zügig in die nächsthöhere Impfgruppe nehmen und ihnen früher ein Impfangebot machen, weil in den Einrichtungen Abstand nicht möglich sei.
An diesem Montag könnte bei einer Schaltkonferenz der Gesundheitsminister der Länder eine entsprechende Grundsatzentscheidung fallen.
Familienministerin Franziska Giffey (SPD) verteidigte die Kita- und Schulöffnungen, betonte aber, dass diese „verantwortungsvoll“und mit Blick auf das Infektionsgeschehen erfolgen müssten. „Man kann die Kinder nicht noch viel länger zu Hause lassen, weil sonst der Kinderschutz und das Kindeswohl in Gefahr sind“, sagte sie und verwies auf Probleme wie Vereinsamung, Bewegungsmangel
und entstehende „Bildungsund Bindungslücken“. Zudem seien viele Eltern am Ende.
Die Zahl der Neuinfektionen in Deutschland stieg sowohl am Samstag als auch am Sonntag im Vergleich zum Vorwochenende an. Das Robert-Koch-Institut (RKI) meldete am Sonntag 7676 neue Fälle, 1562 mehr als am vergangenen Sonntag. Auch die Sieben-Tage-Inzidenz, die die Zahl der Ansteckungen pro 100 000 Einwohner innerhalb einer Woche angibt, erhöhte sich auf bundesweit 60,2 im Vergleich zu 57,8 am Vortag.
Von Dirk Grupe
ULM - Manchmal, wenn die Dinge schlecht für ihn laufen, schämt sich Yaman. Wie neulich, als der Zehnjährige sein Übungsheft Schreibschrift erst gar nicht hervorholen wollte, weil er manche Buchstaben des ABC etwas schief und schräg aufs Papier gebracht hatte. Auch der Fernunterricht über ein Handy fällt dem Viertklässler bisweilen schwer. Dann versteht er nicht, was die Lehrerin genau meint, was sie via Minibildschirm gerade erklären will. „Aber sie kann ja nicht wegen mir den ganzen Unterricht wiederholen“, sagt Yaman. „Wir sind 25 Kinder. Das ist schwierig.“
Und weil es so schwierig ist, sitzt er mit seinen Brüdern Ensan (12) und Eass (7) im Interkulturellen Kinderhaus Ulm und feilt an seiner Schreibschrift. Das Haus in Trägerschaft des Arbeitskreises Ausländische Kinder (AAK) ist in der Frauenstraße in einem Backsteinbau untergebracht, einem früheren Militärgefängnis. Wo einst die Zellen waren, steht heute über den Türbögen „Disco“, „Spielen und Bauen“oder „Offenes Atelier“. „Zu normalen Zeiten ist es hier wuselig“, sagt die AAK-Vorsitzende Andrea Göpel-Traub. Doch es sind keine normalen Zeiten. Es ist Corona. Es ist Lockdown, es ist Homeschooling und Fernunterricht. Es ist Ausnahmezustand.
Werden in der Einrichtung gewöhnlich mehr als 200 Kinder von ehrenamtlichen Pädagogen betreut, erhalten heute über die Woche verteilt nur noch rund 60 vor Ort Hausaufgaben-, Sprach- und Lernhilfe. Das Problem sind jedoch jene, die jetzt gar nicht mehr kommen. Oder die schon früher schwer zu erreichen waren. Die man über Freizeitangebote auch fürs Lernen und für eine bessere Zukunft gewinnen konnte. „Diese Kinder werden jetzt abgehängt“, sagt Göpel-Traub. „Und die Folgen davon sehen wir erst nach dem Lockdown.“
Zumindest ein wenig Alltag für die Kinder kehrt in dieser Woche zurück, dann öffnen Kitas und Grundschulen, zunächst im Wechselbetrieb und parallel zum Homeschooling, ein organisatorischer Kraftakt. Dennoch werden die Eltern froh sein, dass der Nachwuchs wieder die Ranzen schultert und sich der Mehltau, der seit Wochen über den Familien liegt, langsam lichtet. Für manche Schüler ist der Neustart aber auch verbunden mit Angst.
Angst davor, den Anschluss nun endgültig verpasst zu haben, geht es dabei doch um jene, die mehr Zuwendung und Hilfe brauchen als der Durchschnitt. Die oft schon wegen ihrer Herkunft und Vergangenheit Nachteile erleben. Oder die, wie es in Pädagogensprache heißt, aus bildungsfernen Familien kommen. Dahinter verbirgt sich eine Realität, die manchen Lebensweg erschwert, die jeden Schritt in Richtung Schulabschluss zur inneren und äußeren Strapaze macht. Davon betroffen sind Schüler mit Migrationshintergrund und aus Flüchtlingsfamilien. Aber auch viele deutsche Kinder.
Davon berichten kann Luzi Martello, die Sozialarbeiterin betreut für die Sonja Reischmann Stiftung in Ravensburg Familien, bei denen ein Elternteil verstorben ist oder sich nach einer Trennung nicht mehr um die Kinder kümmert. Zu 95 Prozent handelt es sich dabei um Deutsche. „Es ist kaum vorstellbar, was diese Familien während Corona erlebt haben und noch erleben“, sagt Martello. Schon beim ersten Lockdown drohte der Nachwuchs den Anschluss zu verlieren, allein weil es an Internet, Druckern und Computern fehlte. Das Gros dieser Probleme ließ sich inzwischen beheben, ein tiefgreifendes Handicap aber bleibt: „Wir haben sehr, sehr viele Familien in Ravensburg, die an der Armutsgrenze leben.“
Dieser Umstand werde in der wohlhabenden Region unterschätzt und übersehen. Das damit verbundene Leid bleibt unsichtbar. „Diese Kinder schämen sich“, sagt Martello. Das fange schon bei Klassenfahrten ins Landschulheim an, die sich die Familien nicht leisten können. Kinobesuche mit Mitschülern seien nur vereinzelt möglich, ganz zu schweigen von großzügigen Geschenken auf Kindergeburtstagen. „Dann stehen die vor den riesigen Häusern ihrer Klassenkameraden und fühlen sich schlecht.“In der Folge schlagen diese Kinder Geburtstagseinladungen aus, ziehen sich immer mehr zurück, verlieren in Schule und Freizeit den Kontakt. „Dann haben sie keine Freunde mehr und werden immer mehr zu Außenseitern.“
Die Sozialarbeiterin versucht daher, die Familien aus ihrem Dasein am Rand zu holen, sie zu vernetzen und zu verankern. Sie organisiert materielle und logistische Hilfen, hält Verbindung zum Schulamt, vermittelt bei Bedarf Therapie oder Nachhilfe. Und stößt in Zeiten der Pandemie trotzdem an Grenzen. So betreut sie momentan einen Jungen, der sich fünf Wochen nicht mehr bei der Schule gemeldet hatte. Abgetaucht in seine eigene Welt, unbemerkt von seinem Umfeld. „Manche Kinder vereinsamen jetzt völlig“, sagt Martello. Sie fürchtet, dass sich nach dem Lockdown einzelne Schüler aufgrund ihrer Ängste und Blockaden, ihrer Lücken und Versäumnisse, dem Schulalltag komplett verweigern werden.
Um es nicht soweit kommen zu lassen, spielen die Lehrer eine zentrale Rolle. „Sie sind enorm wichtig für die Kinder, sie vermitteln eine hohe Motivationsquelle“,
in schulischer und persönlicher Hinsicht. „So eine Beziehung ist sehr intensiv, auch wenn Lehrer das nicht immer so wahrnehmen“, sagt Martello, die den Pädagogen während Corona ein unterschiedliches Zeugnis ausstellt: „Manche Lehrer sind sehr engagiert. Andere weniger.“
Edgar Bohn, Vorsitzender des Bundesverbands der Grundschulen, einst selber Schulleiter in Freiburg, nimmt die Kollegen in Schutz. „Ganz viele arbeiten seit der Pandemie im roten Bereich“, sagt Bohn. „Wir machen uns Sorgen um die Gesundheit der Lehrkräfte.“Zu befürchten sei, dass bei weiter steigender Belastung reihenweise Personal ausfällt. Die Öffnung der Grundschulen begrüßt er zwar, sieht ihr aber auch mit gemischten
Gefühlen entgegen, da wichtige Fragen des Gesundheitsschutzes und Personalfragen ungeklärt seien: „Betreuung von Präsenzunterricht, Fernunterricht, Notgruppen – wie das alles gleichzeitig möglich sein soll, sehe ich nicht.“
Viele Familien sehen dagegen nicht, dass es wie bisher weitergehen kann. Denn auch sie sind längst im roten Bereich. „Für die Kinder ist das Homeschooling sehr stressig“, sagt etwa Manuela Oliver, deren 13- und 15-jährigen Töchter in Leutkirch zur Schule gehen. Von 7.45 Uhr bis 12.15 Uhr ist Fernunterricht angesagt, dann erklärt der Lehrer kurz den Stoff, verweist auf ein YouTube-Erklärvideo, erteilt Aufgaben – und schon ist das nächste Hauptfach dran.
„Die Kinder werden da mit Aufgaben manchmal zugeschüttet.“Für die Nebenfächer am Nachmittag wie Geschichte oder Gemeinschaftskunde verweisen die Lehrer nur noch auf Buchseiten. Und immer wieder heißt es von den Töchtern: „Mama, das kapier ich nicht!“Bei Mathe kann die Finanzbuchhalterin problemlos helfen, „wenn es aber in Physik um Hebelkräfte geht, bin ich raus“. Dann beugt sich am Abend der Vater über die Hefte.
Was Manuela Oliver darüber hinaus umtreibt, ist ihre ungeliebte und fordernde Rolle, die sie gegenüber ihren Kindern einnimmt: „Ich muss die Lehrerin spielen“, sagt sie, „ich bin die Böse.“Nun zählen die Olivers, um in der Pädagogensprache zu bleiben, zu den bildungsnahen Familien, was manches erleichtert. Aus ihrem Umfeld kennt sie aber auch die andere Seite. „Neulich hat ein Flüchtlingsjunge eine Präsentation vorgestellt, er hat sich wirklich bemüht. Aber seine Mutter hat noch nie was von Powerpoint gehört. Wie soll der Junge das alleine schaffen? Das macht mich traurig.“
So kämpft jede Familie auf ihre Weise mit den Umständen, die an Nerven und Kräften zerren. Was Annette Holuscha-Uhlenbrock, Direktorin des Caritasverbandes der Diözese Rottenburg-Stuttgart, im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“deutlich kritisiert:
„Obwohl wir die Pandemie schon seit fast einem Jahr haben, vermisse ich ein pädagogisches Gesamtkonzept.“Annette Holuscha-Uhlenbrock vom Caritasverband
„Obwohl wir die Pandemie schon seit fast einem Jahr haben, vermisse ich in Baden-Württemberg ein pädagogisches Gesamtkonzept.“Ein Konzept, das die Öffnung der Schulen wie auch das Homeschooling beinhaltet, das für eine umfassende Begleitung der Kinder steht. „Es gibt Überforderungen bei den Jugendlichen, es gibt Ängste und es gibt Depressionen“, sagt die Mutter von zwei schulpflichtigen Jungs. „Denn Schule ist ja nicht nur ein Ort des Lernens, sondern auch der Begegnung. Und das betrifft alle Kinder.“
Ressourcen, um Mängel und Kummer aufzufangen, sieht Holuscha-Uhlenbrock reichlich, etwa über verlässliche Hausaufgabenbetreuung, über Schulsozialarbeiter und Ehrenamtliche, über Vereine oder auch Studenten, die sich dem Nachwuchs widmen könnten. „Kinder brauchen Ansprechpartner“, betont die Caritas-Direktorin. „Wenn man jetzt im Land versuchen würde, das, was es schon an kreativen Ideen gibt, zu einem gesamtpädagogischen Konzept zu bündeln, dann wären wir einen großen Schritt weiter.“
So aber werden Eltern, Schüler und Lehrer weiterhin aufgerieben, zwischen Politik und Pandemie, zwischen mal geöffneten und dann wieder geschlossenen Schulen, zwischen pädagogischer Anspruchshaltung und einer oft niederschmetternden Wirklichkeit.
Der zehnjährige Yaman sucht trotz dieser Gemengelage seinen eigenen Weg im Interkulturellen Kinderhaus Ulm. Über die Türkei kam die Familie vor vier Jahren aus Syrien nach Deutschland. „Mein Vater sagt: ,Wer nicht lernt, der verpasst das Leben’“, erzählt der Zehnjährige. Weil Yaman aber die Zukunft auf keinen Fall verpassen will, hat er sich zuletzt intensiv mit seinem Übungsheft Schreibschrift beschäftigt. Inzwischen ist er bei M und N angekommen, hat mit Bleistift die Buchstaben sauber zwischen die Linien geschrieben, diesmal schwungvoll, manche sogar wie gemalt. Nun liegt das Heft offen aufgeschlagen auf dem Tisch, sichtbar für jeden. Und statt mit Scham behaftet voller Stolz.