Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Ums Leben ringen

Vor einem Jahr wurden in Baden-Württember­g die ersten Corona-Patienten gemeldet – Ein Fotograf durfte Pflegekräf­te und Patienten begleiten

- Von Dirk Grupe

Ein Mann in existenzie­ller Not. Ängstlich und fragend schaut er hoch zu einer Krankensch­wester, die seine Hand hält. Die ihm vielleicht zuredet, die ihm Antworten gibt. Die ihm auf alle Fälle zur Seite steht. Das Foto zeigt Walter Brummel, Leiter eines großen Einzelhand­elsgeschäf­ts in Friedrichs­hafen. Es ist einige Wochen alt und die gute Nachricht: Brummel lebt. Er ist dem Tod, der ihm so nahkam, entronnen.

Nun sitzt der 56-Jährige, zugeschalt­et bei einer Videokonfe­renz des Unikliniku­ms Tübingen, in seinem Zimmer in einer Rehaklinik in Allensbach. Brille mit dunklem Rand, angegraute­s Haar und ein schmales Gesicht, das früher wohl deutlich voller war. Über die Zeit auf der Tübinger Intensivst­ation weiß er nur noch wenig: „Mein Bett stand an einer Säule, an der Fotos von meiner Familie hingen, von meiner Frau, den Kindern ...“, dann stockt er kurz und sagt mit einem Lächeln, „ab und zu kommen mir noch die Tränen“. Über die ersten Wochen in Tübingen aber, als er an Maschinen und Schläuchen hing, als rund um die Uhr Mediziner und Pfleger jede Regung registrier­ten, als es für ihn um alles ging, sagt er: „Davon weiß ich nichts mehr. Gar nichts.“Die dunkelste Phase seines Lebens, verschluck­t in einem noch dunkleren Loch.

Am 25. Februar ist ein Jahrestag, ein Jubiläum, unwürdig einer Feier, aber würdig eines Gedenkens. An jenem Faschingsd­ienstag vor einem Jahr wurden die ersten beiden Corona-Patienten am Unikliniku­m Tübingen aufgenomme­n. Sie zählten gleichzeit­ig zu den ersten Covid-Patienten in Baden-Württember­g. Die „Schwäbisch­e Zeitung“titelte damals auf Seite 1: „Coronaviru­s erreicht den Südwesten“. Gesundheit­sminister Manfred Lucha (Grüne) brach seinen Urlaub ab und mahnte zur Besonnenhe­it: „Baden-Württember­g hat sich schon früh auf diesen Fall eingestell­t. Alle beteiligte­n Stellen arbeiten eng und intensiv zusammen.“Die „Schwäbisch­e Zeitung“kommentier­te dagegen: „Der aktuelle Stand der Verbreitun­g bis nach Italien und Österreich lässt vermuten, dass die Infektion sich in Deutschlan­d ebenfalls ausbreiten wird. Dann stehen auch uns heftige Maßnahmen bevor, um Ansteckung­sketten zu unterbrech­en. Die gewonnene Zeit rettet Leben.“

Ein Jahr später wurden bisher knapp 700 Covid-Patienten in Tübingen behandelt, davon rund 156 auf der Intensivst­ation. Gestorben sind davon 50, also knapp ein Drittel. Das Leid der Betroffene­n und ihrer Angehörige­n ist immens.

Mit ihnen gelitten haben Pflegekräf­te, Ärzte und Ärztinnen, die viele Leben retten konnten und können. Die sich seit Monaten und tagtäglich bis an die Belastungs­grenze und oft darüber hinaus um die Erkrankten kümmern. Über ihre Arbeit weiß man erstaunlic­h wenig, weil sie sie zwangsläuf­ig und zur Sicherheit aller unter Ausschluss der Öffentlich­keit verrichten. Oder wie es Franziska Strasser, Intensivpf­legekraft in Tübingen, formuliert: „Der Kampf gegen Corona wird hinter geschlosse­nen Türen geführt.“

Um Außenstehe­nden trotzdem einen Blick in diese hermetisch abgeriegel­te Welt zu gewähren, hat sich das Klinikum Tübingen zu einem ungewöhnli­chen Projekt entschloss­en. Der Fotograf Tobias Wuntke durfte während der zweiten Corona-Welle für insgesamt 24 Stunden auf die Covid-Intensivst­ation, hat dort Hunderte Bilder gemacht, eine Auswahl wird nun zum Jahrestag gezeigt und zu einem späteren Zeitpunkt auch der Öffentlich­keit präsentier­t.

In einfühlsam­en Aufnahmen hat er das Wirken auf der Station eingefange­n. Ungeschönt machen die Fotos den Alltag sichtbar: Patienten verbunden an Beatmungsg­eräte, Schläuche, technische Apparate sowie Ärzte und Pflegekräf­te in Schutzanzü­gen und Masken geben einen Eindruck von den schwierige­n Situatione­n. Von den anstrengen­den Arbeitsbed­ingungen und der Zuwendung zum Patienten. Den Augenblick­en menschlich­er Nähe bis hin zu Sterben und Tod. „Jedes Bild erzählt eine eigene Geschichte“, sagt Wuntke.

Neben vielen schmerzhaf­ten Erzählunge­n oder solchen, die von hoher Anspannung zeugen, auch Menschlich­es oder Aufheitern­des. Wie von einem Patienten, der auf die Frage, ob er einen Wunsch hätte, antwortet: „Ein Bier wäre schön.“Nach Absprache mit dem Arzt erhält er ein bayerische­s Weißbier, das ihm, so auf einem Foto zu sehen, eine Schwester per Plastikbec­her und Strohhalm verabreich­t. Furchtbar traurig dagegen das Foto eines jungen Mannes im Koma. An der Wand hängen Bilder von ihm und seiner Lebensgefä­hrtin. 70 Tage verbringt er auf der Intensivst­ation. Dann stirbt er.

„Ganz schlimm“, sagt Pflegekraf­t Strasser, die betont, dass die Fotos nicht zuletzt den Angehörige­n Trost spenden sollen. Die nie zu Besuch kommen durften, die kein Bild und keine Vorstellun­g von der quälenden Zeit auf der Intensivst­ation haben. Die nun sehen, dass um das Leben ihrer Lieben rund um die Uhr und bis zum Ende gerungen wurde.

Für Walter Brummel aus Friedrichs­hafen haben die Fotos, darunter zahlreiche, die ihn zeigen, eher etwas Befremdlic­hes. Weil er sich an jene aufwühlend­en Wochen kaum erinnern kann. „Wenn ich diese Bilder sehe, ist das für mich wie Fernsehguc­ken“, beschreibt er seine Distanz. Erinnern kann er sich dagegen, wie sein persönlich­es Drama begann. „Am 5. Dezember vergangene­s Jahr habe ich im Geschäft einen Hörsturz erlitten.“Mit dem Tinnitus wird er in die Klinik nach Tettnang eingeliefe­rt. Da kreisen seine Gedanken noch um das Weihnachts­geschäft und wann er wohl wieder einsteigen könne. Doch in der Klinik bricht Corona aus, und nach einigen Tagen heißt es: „Sie haben sich infiziert.“Brummel bekommt Fieber, Schüttelfr­ost, Durchfall – und verliert das Bewusstsei­n.

Sein Leben verdankt er vermutlich seiner Frau. Die bearbeitet die Ärzte, setzt alle Hebel in Bewegung, sodass ihr Mann am 23. Dezember mit dem Hubschraub­er ins Unikliniku­m Tübingen geflogen wird. Für die Familie brechen über Weihnachte­n bange Stunden und Tage an. Dann die Erlösung. Der Patient kommt nach Wochen wieder zu Bewusstsei­n, erholt sich so weit, dass er nach Allensbach in die Reha kann, glücklich und geschwächt. „Ich habe 15 Kilo Muskelmass­e verloren“, sagt Brummel. Aber er lebt.

Und hat Zeit zum Nachdenken. Kürzlich war sein Geburtstag, da erhielt er rund 100 Glückwunsc­hkarten, auch von Bekannten und Freunden, von denen er teils viele Jahre nichts gehört hatte. „Das war ergreifend.“Jeden Einzelnen hat er angerufen, sich bedankt und seine Geschichte erzählt. „Alle Bekannten waren erstaunt – niemand konnte sich einen so schweren Krankheits­verlauf vorstellen“, berichtet er. Auch er habe früher gedacht, Corona sei nicht mehr als eine leichte Grippe. „Doch die Leute sterben daran. Und nicht nur ältere.“

Bis er wieder arbeiten kann, wird es wohl noch Monate dauern. Die Zeit will Walter Brummel nutzen, um sein Seelenlebe­n aufzuräume­n. Vielleicht auch mithilfe eines Therapeute­n die vergangene­n Wochen Revue passieren lassen. „Da ist das eine oder andere, was versteckt schlummert.“Verschwund­en in der Dunkelheit, als es für ihn um Sein oder Nichtsein ging.

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FOTOS: TOBIAS WUNTKE Ärzte in Schutzanzü­gen, Patienten, aus denen Kanülen ragen und gezeichnet­e Pflegekräf­te. Der Fotograf Tobias Wuntke hat die aufreibend­e Arbeit auf der Covid-Intensivst­ation in Tübingen eingefange­n.
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FOTO: TOBIAS WUNTKE FOTOGRAFIE Walter Brummel aus Friedrichs­hafen auf der Covid-Intensivst­ation in Tübingen.
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