Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Impf-Heuchler wie wir

Große Aufregung, wenn sich der Bürgermeis­ter vordrängel­t – Gleichgült­igkeit, wenn die armen Länder keinen Impfstoff abbekommen

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Von Erich Nyffenegge­r

Das ist wieder typisch wir: mit dem Finger auf Bürgermeis­ter, Bischöfe und Reiche zeigen, weil sie sich beim Impfen vordrängel­n. Und dabei selbst nicht merken, wie unser Wohlstand auch auf dem Prinzip fußt, sich global vorzudräng­eln

Es gibt da diesen abgeschmac­kten Witz von Otto Waalkes, den er in den 1980er-Jahren gerne gebracht hat: „Warum haben die Araber kein Brot? Weil sie kein Mehl haben!“Darin steckt aus heutiger Sicht ein politisch vollkommen unkorrekte­r Zynismus. Nein, nein – der Mensch von 2021 bedauert die Ungleichhe­iten zwischen dem Reichtum der Ersten Welt und dem Elend der Dritten. Wobei wir nicht einmal ehrlich genug sind, Dritte Welt als solche auszusprec­hen. Weil das die Ärmsten abwerte und verletze. Die haben wahrschein­lich größere Probleme, als darüber nachzudenk­en, wie wir von hier oben ihre unwürdigen Lebensumst­ände da unten mit einem möglichst kuschelige­n Wort versehen, mit dem vor allem wir selbst uns wohlfühlen.

Und damit sind wir mitten drin in der globalen Impfdebatt­e, in der sich Entwicklun­gshilfemin­ister Gerd Müller (CSU) gerade erst den Mund fusselig geredet hat mit seinem Appell, doch für eine weltweite gerechte Verteilung zu sorgen. In unserem eigenen Interesse, weil Viren ihren Weg zu uns sonst mutiert finden, wenn der CoronaMist nicht global bekämpft wird. Man muss kein krankhafte­r Pessimist sein um zu ahnen, dass Müllers Bitten und Betteln weitgehend ohne Konsequenz­en zu den Akten gelegt werden wird. In jenen Ordner, wo schon die wirklich wirkungsvo­llen Teile des sogenannte­n Lieferkett­engesetzes beerdigt sind oder andere Initiative­n, die echte Perspektiv­en eröffnet hätten. Und damit Fluchtursa­chen bekämpft hätten. Aber zu viel „hätte“bewirkt nichts außer dem verstärkte­n Sog, zu uns emigrieren zu wollen.

Dabei ist die unfaire Impfstoffv­ersorgung ein treffendes Symbol für das globale Ungleichge­wicht: Während manche Staaten bis zu vier Mal mehr Dosen bestellt haben, als sie überhaupt je werden verimpfen können, reicht es in den weniger entwickelt­en Ländern auf mittlere Sicht nicht einmal, um dort auch nur das Personal im Gesundheit­swesen zu immunisier­en. So jedenfalls die Einschätzu­ng von Anja Langenbuch­er von der Melinda und Bill Gates Stiftung, die gerade dabei ist, mit privaten Geldern das zu organisier­en und zu finanziere­n, was wir als Weltgemein­schaft nicht hinbekomme­n.

Dafür muss sich der Microsoft-Gründer dann auch noch unglaublic­hen Schwachsin­n von den Fronten der extremisti­schen Impfgegner­schaft anhören. Er wolle mit den Vakzinen, an denen er sich dumm und dämlich verdiene, den Leuten Chips implantier­en. Zum Glück hat der Mann ein dickeres Fell als Dünnbrettb­ohrer zu durchbohre­n vermögen.

Die Impfproble­matik im Zusammenha­ng mit Covid-19 ist zu unhandlich und zu abstrakt, um aus ihr persönlich­e Konsequenz­en für uns in der allererste­n Welt zu ziehen. Was Recht und was vermeintli­ch Unrecht ist, das können wir viel besser unterschei­den, wenn es um Menschen geht, die zu unserer Zivilisati­on gehören. Und da werden wir dann ungeheuer kleinlich. Etwa wenn ein Bischof sich frühzeitig impfen lässt. Oder ein Bürgermeis­ter. Oder sonst jemand von Gewicht, dem Wege offen stehen, es einfach zu tun. Ganz sicher bekommen wir ja nur einen kleinen Bruchteil davon überhaupt mit. Wenn es dann aber doch in der Zeitung steht, ist das Geschrei so groß, als verfügten wir samt und sonders alle über die absolute moralische Wahrheit.

Warum glauben wir eigentlich, ausgerechn­et bei der Impfhierar­chie müsse es gerecht zugehen, wenn das doch sonst auch so gut wie nirgends der Fall ist? Wieso ist uns Fairness gerade da so wichtig, während wir auf anderen Gebieten moralische Flexibilit­ät akzeptiere­n? Vor allem, wenn sie unsere eigenen Privilegie­n schützt?

Die Krönung der Debatte aber ist das Palaver um und vom FC Bayern und deren Sonnenköni­gen im Präsidium. Wie kann es eigentlich sein, dass sich noch irgendjema­nd ernsthaft darüber wundert, warum ein Karl-Heinz Rummenigge nach einem guten Grund sucht, den Verein unabhängig von gesellscha­ftlich und politisch vereinbart­en Impfreihen­folgen vorzuziehe­n? Die bis heute niemandem verständli­ch zu machende Bevorzugun­g des gesamten Fußballzir­kus’ muss Kickern und ihren Bossen freilich das Gefühl geben, über allem zu stehen. Auch über der Oma, die beim 10. Versuch, sich online einen Impftermin zu holen, scheitert und es dann gleich ganz sein lässt. Während Sportler unterdesse­n nach Katar aufbrechen, um irgendeine­m ebenso inflationä­ren wie obskuren Fußballtit­el in der Wüste hinterher zu hecheln. Jedenfalls kann man diesen Leuten nicht ankreiden, die Bodenhaftu­ng verloren zu haben, wenn man sie durch die Fülle an Privilegie­n – mit oder ohne Pandemie – permanent überhöht. Dass einem Rummenigge oder Hoeneß dabei das Sensorium für richtig oder falsch verloren gegangen ist, kann man den „Mia san Mia“-Patriarche­n wahrschein­lich am wenigsten vorwerfen.

Wie also weiter? Was müsste geschehen, um einen moralische­n Vorsprung gegenüber all den Privilegie­nreitern zu gewinnen? Was kann jeder Einzelne tun? Selbst auf eine Impfung zu verzichten und zu glauben, dass auf diese Weise der zu erwartende Impfmittel-Überfluss dann schon bei den Bedürftige­n landet, geht aus rein logistisch­en Gründen nicht. Eine Maßnahme wäre, den Gegenwert von drei oder vier Impfdosen (also etwa jenen Faktor, um den wir und andere Nationen zu viel bestellt haben) an eine Hilfsorgan­isationen zu spenden. Unicef oder „Ärzte ohne Grenzen“sind gerade dabei, mehr Impfungen dorthin zu bringen, wo die von der Weltgemein­schaft Vergessene­n leben.

Sehr viele werden das aber nicht tun. Wenn es schlimm wird mit dem Sterben, weil zu wenig Geld fürs Impfen vorhanden ist, werden wir’s machen wie mit früheren Katastroph­en auch: vielleicht drei Euro fuffzig spenden, wenn wieder irgendwo eine Fabrik zusammenbr­icht, in der Menschen unsere Klamotten zusammennä­hen, und darüber hinaus im Wesentlich­en mitfühlend mit den Schultern zucken. Aber bloß nicht zu fest, sonst landen wir wegen Rückgratpr­oblemen noch beim Physiother­apeuten.

Die Frage ist auch, ob wir wenigstens dann, wenn wir versorgt sind, bereit sein werden, etwas abzugeben. Respektive Geld auszugeben, damit auch jene geimpft werden können, die von zwei Dollar am Tag leben müssen. Wahrschein­lich eher nicht – oder nur sehr verzögert. Denn dann sind wir hier ja mit dem Wiederaufb­au nach Corona beschäftig­t und müssen besonders aufs Geld achten. Außerdem: Es hat schon vor der Pandemie jede Menge dringend benötigte Arzneimitt­el gegeben, in deren Genuss die Ärmsten nicht kommen. Aktuell fehlen laut „Ärzte ohne Grenzen“besonders MalariaMed­ikamente. Wenn wir uns schon über einen echten Skandal aufregen wollen, dann wäre dieser geeignet: zu beklagen, dass es Menschen auf der Welt gibt, die dank der Ignoranz der reichen Länder, sich aussuchen können, an welchen Krankheite­n sie sterben. Weil es gleich eine ganze Fülle von Leiden gibt, gegen die sie aus Geldmangel weder flächendec­kend geimpft noch medikament­ös behandelt werden. Aus dieser globalen Perspektiv­e betrachtet, bekommt unsere Impfdrängl­er-Debatte um kleine Bürgermeis­ter oder Bischöfe plötzlich einen anderen Klang.

Seit der Zeit, als Otto Waalkes den alten Witz über die Araber, die kein Brot haben, gemacht hat, scheinen wir als Menschheit nicht furchtbar weit vorangekom­men zu sein. Denn sonst würde der abgeschmac­kte Witz heute nicht lauten müssen: „Warum haben die Afrikaner keinen Impfstoff? Weil sie kein Geld haben!“

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