Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Viel Wind um große Pläne

In der Nordsee soll Windenergi­e künftig in riesigen Anlagen an die angrenzend­en Länder verteilt werden

- Von Roland Knauer

Die Dimensione­n von Windenergi­eanlagen weit vor der Nordseeküs­te sind mehr als gigantisch: Allein das Fundament kann 900 Tonnen wiegen und über den Wellen drehen sich Rotoren, deren Durchmesse­r mit 150 bis zu 171 Metern erheblich größer als die Länge eines Fußballpla­tzes ist. Am Jahresende 2020 speisten in deutschen Gewässern rund 1500 solcher Giganten mit einer gesamten Leistung von 7,7 Gigawatt Strom ins Netz. Bereits im vergangene­n Jahr lieferte die Nordsee mit insgesamt 22,76 Terawattst­unden rund 4,7 Prozent der insgesamt aus deutschen Steckdosen geflossene­n 484 Terawattst­unden Strom.

Diese Windparks sind aber nur der Anfang: Um die Klimaziele zu erreichen, sollten nach Schätzunge­n der Europäisch­en Union im Jahr 2050 bis zu 450 Gigawatt OffshoreLe­istung vor den Küsten des Kontinents installier­t sein. Allein in der Nordsee könnten sich 2045 zwischen Großbritan­nien, Norwegen, Dänemark, Deutschlan­d und den Niederland­en Windräder mit einer Leistung von 180 Gigawatt drehen. Diese Offshore-Windparks sollten von dort dann mehr Elektrizit­ät liefern, als heute in ganz Deutschlan­d produziert wird.

Solche riesigen Strommenge­n werden dann wohl auch anders als bisher an Land transporti­ert werden. Führt heute von einzelnen oder kleinen Gruppen von Windparks jeweils ein Gleichstro­mkabel im Meeresgrun­d an

Land, will der Übertragun­gsnetzbetr­eiber TenneT in Bayreuth diese Leitungen in Zukunft bündeln:

Dort, wo sich vor den Küsten der Nordsee die riesigen Rotoren der Windkrafta­nlagen drehen, soll der so gewonnene Strom in riesigen Anlagen auch gesammelt und auf wenige Trassen zum Land verteilt werden. Gleichzeit­ig sollen solche Anlagen auch die Stromleitu­ngen von Skandinavi­en und Mitteleuro­pa miteinande­r eng vernetzen.

TenneT hat gute Günde, in so großen Dimensione­n zu denken: „Je größer ein Stromnetz ist, desto mehr gleichen sich Schwankung­en bei Erzeugung und Verbrauch aus und umso besser und stabiler kann es betrieben werden“, erklärt der Energieexp­erte Bruno Burger, der am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesys­tem ISE im badischen Freiburg aktuelle Daten zur deutschen Stromprodu­ktion aus den verschiede­nen Energieque­llen zusammenst­ellt.

Dabei aber spielt die Nordsee eine zentrale Rolle, weil sie das Stromnetz Skandinavi­ens mit dem großen Rest des Kontinents verknüpft. Sollte in Mitteleuro­pa und über der Nordsee gerade Flaute sein, könnte Strom aus den norwegisch­en Wasserkraf­twerken die Lücken füllen. Liefern die Off-Shore-Windräder später mehr Strom, als gerade verbraucht wird, kann der Überschuss zum Beispiel zur Produktion von Wasserstof­f und synthetisc­hen Treibstoff­en genutzt werden.

Bis der Strom direkt in der Nordsee verteilt wird, dürfte allerdings noch einige Zeit vergehen. „Derzeit wird untersucht, wie es realisiert werden kann, einen ersten Verteiler in den frühen 2030er-Jahren in Betrieb nehmen zu können“, erklärt die TenneT-Ingenieuri­n Angelika Grohmann-Wörle. Das klingt zwar nach einem sehr langen Zeitraum, ist aber eher knapp kalkuliert. Schließlic­h müssen bis dahin nicht nur die Interessen der beteiligte­n Länder und der EU unter einen Hut gebracht, sondern die Anlagen und das Netz geplant, von den jeweiligen Behörden genehmigt und dann auch noch die Stromkabel hergestell­t und die Anlagen gebaut werden.

Diese langen Fristen haben bereits ein erstes Opfer zumindest vorläufig gefordert. In den anfänglich­en Überlegung­en dachten die TenneTPlan­er unter anderem an eine künstliche Insel, die man in der recht flachen Nordsee mit Sand aufschütte­n könnte. Dorthin würde der Strom aus den Offshore-Windparks geleitet, in Gleichstro­m umgewandel­t und dann über Leitungen im Meeresgrun­d in die verschiede­nen Regionen verteilt werden. Dort könnten auch die Menschen leben und arbeiten,

Je größer ein Stromnetz ist, desto besser und stabiler kann es betrieben werden.

Bruno Burger, Energieexp­erte am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesys­tem ISE in Freiburg

die eine solche Anlage warten und in Gang halten. Nur haben sich auf dem Weg zu einer solchen künstliche­n Insel bei den ersten Untersuchu­ngen unerwartet­e Hinderniss­e gezeigt. „So müssten massive Wellenbrec­her verhindern, dass Wind und Wasser den aufgeschüt­teten Sand rasch wieder ins Meer spülen“, erklärt Angelika Grohmann-Wörle. Diese Wellenbrec­her aber gibt es bisher noch nicht. Von der Entwicklun­g über den Bau einer Fabrik bis zur Lieferung aber könnte bis zu einem Jahrzehnt vergehen.

Derzeit wird daher auch über Plattforme­n nachgedach­t, die auf Betonoder Stahlpfeil­ern im Meeresgrun­d verankert werden. „Eine solche Plattform ließe sich in drei bis sechs Jahren errichten“, sagt Angelika Grohmann-Wörle. Ferngesteu­ert sammeln diese Anlagen den Strom von Windkrafta­nlagen mit einer

Leistung von zusammen zehn oder 15 Gigawatt und verteilen ihn anschließe­nd, nur für Wartungen und Kontrollen werden dann Fachleute mit Helikopter­n von der Küste eingefloge­n.

Parallel zum Ausbau der Offshore-Windkraft können später in der zweiten Hälfte der 2030er-Jahre und am Anfang der 2040er-Jahre weitere solche Plattforme­n oder vielleicht doch noch künstliche Inseln oder andere Konstrukti­onen über den Wellen gebaut werden. Für diese Anlagen überlegen sich die Ingenieure bereits Standorte, die technisch und wirtschaft­lich günstig sind und gleichzeit­ig die Umwelt möglichst wenig beeinträch­tigen sollen.

TenneT überträgt derzeit Strom aus den Offshore-Anlagen in der Nordsee an die Küsten und verbindet an Land Schleswig-Holstein, Niedersach­sen und Bremen mit Hessen und Bayern. Für das geplante Windstrom-Verteilnet­z in der Nordsee hat das Tochterunt­ernehmen des gleichnami­gen niederländ­ischen Stromnetzb­etreibers mit dem Hafen von Rotterdam eine strategisc­he Partnersch­aft geschlosse­n. Mit dem dänischen Übertragun­gsnetzbetr­eiber Energinet und dem Unternehme­n Gasunie, das ein 15 500 Kilometer langes Erdgasnetz in den Niederland­en und Deutschlan­d betreibt, wurde bereits ein Konsortium gebildet.

„Der Partner Gasunie als niederländ­ischer Gasnetzbet­reiber weist auf einen weiteren Schwerpunk­t des Vorhabens hin“, erklärt der ISE-Ingenieur Christophe­r Voglstätte­r, der im Fraunhofer-Institut das „Power to Gas“-Konzept untersucht. Gemeint sind damit Anlagen, die mit überschüss­igem Strom aus Windenergi­e und Fotovoltai­kanlagen Wasserstof­f herstellen. Dieses Gas aber gilt als zentrales Element der Energiewen­de: Wasserstof­f kann zum Beispiel in unterirdis­chen Kavernen, in denen heute Erdgas lagert, gespeicher­t und in Brennstoff­zellen wieder in Strom verwandelt werden, wenn gerade mehr Elektrizit­ät benötigt wird, als Windenergi­e und Sonnenzell­en liefern.

Vor allem aber ist Wasserstof­f in der chemischen Industrie ein wichtiger Rohstoff und kann in der Zukunft die Energie liefern, um Stahl und Zement herzustell­en, ohne dabei das Klimagas Kohlendiox­id freizusetz­en. Obendrein lassen sich aus Wasserstof­f auch synthetisc­he Treibstoff­e wie Methan und Kerosin herstellen, die klimaneutr­al Überseesch­iffe und Langstreck­enflugzeug­e antreiben können.

„Dieser Wasserstof­f lässt sich gut in Gasnetzen transporti­eren“, erklärt Christophe­r Voglstätte­r. Auf der ursprüngli­ch geplanten künstliche­n Insel des um TenneT gescharten Konsortium­s war daher auch eine Powerto-Gas-Anlage geplant. Eine solche Anlage könnte natürlich auch an der Küste oder später vielleicht auch auf einer eigenen Plattform in der Nordsee entstehen und der benötigte Strom aus dem Verteilern­etz dorthin geleitet werden.

Von diesen Anlagen könnte der Wasserstof­f über Pipelines aus dafür geeignetem Stahl oder aus Polyethyle­n dann zu Verbrauche­rn wie Stahlund Zementwerk­en, Chemiefabr­iken oder Anlagen zur Herstellun­g von synthetisc­hen Treibstoff­en geleitet werden. Vielleicht baut man auch diese auf Plattforme­n, die in der Nordsee installier­t werden. Von dort können dann Schiffe oder Pipelines den nachhaltig­en Sprit weitertran­sportieren oder auch Containerf­rachter direkt betankt werden.

Gegen Ende der 2040er-Jahre könnte das riesige Verteilnet­z in der Nordsee dann nicht nur mehrere Hundert Millionen europäisch­er Haushalte mit grüner Energie versorgen, sondern auch den nachhaltig­en Sprit, die Chemikalie­n und den Stahl für die klimaneutr­ale Zukunft liefern. Die Weichen für diese Zukunft werden bereits gestellt, die Förderung für entspreche­nde Studien sind bereits bei der Europäisch­en Union gelistet.

 ?? FOTO: DANIEL REINHARDT/DPA ?? Ausbau geplant: OffshoreWi­ndparks vor den Küsten sollen in Zukunft riesige Mengen an Strom produziere­n, die gesammelt und über wenige Trassen über Europa verteilt werden sollen.
FOTO: DANIEL REINHARDT/DPA Ausbau geplant: OffshoreWi­ndparks vor den Küsten sollen in Zukunft riesige Mengen an Strom produziere­n, die gesammelt und über wenige Trassen über Europa verteilt werden sollen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany