Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Kommando außer Kontrolle
Immer neue Skandale erschüttern die Elitetruppe der Bundeswehr – Rechts extremismus, verschwundene Munition, illegale Amnestie-Aktionen und Schweine kopf-Weit wurf wettbewerbe stellen die Existenzfrage beim Kommando Spezialkräfte
Kommen Sie●uns mal besuchen, wir freuen uns auf Sie!“Im Dezember 2015 ist der damalige Kommandeur des Kommandos Spezialkräfte (KSK), Brigadegeneral Dag Baehr, bester Laune und lädt Journalisten in die GrafZeppelin-Kaserne nach Calw, die Heimat der Elitekämpfer ein. Gerade haben die Piloten, die die KSKSoldaten in die Einsätze fliegen, neue Hubschrauber vom Typ Airbus H145 bekommen: „Der Weg von und zur Arbeit wird für uns leichter“, scherzt er. Die Übernahme der Helikopter war der vorerst letzte Anlass für Scherze oder positive Schlagzeilen über das Kommando, das im Geheimen operiert, und allen beteiligten Soldaten Maulkörbe verpasst. Seither ist nur von Skandalen zu lesen.
2017 gab es die Party mit Schweinskopf-Weitwurfwettbewerben, sexuellen Ausschweifungen und Hitlergruß. Im vergangenen Jahr schickte ein junger Hauptmann einen Brandbrief an Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU), in dem er auf rechtsextreme Missstände innerhalb des Verbandes aufmerksam machte und sie als tiefgreifend und strukturell bezeichnete. Berichte über massenhaft verschwundene Munition häuften sich Mitte 2019. Auch wurde im vergangenen Jahr bei einem Kommando-Soldaten in Sachsen ein Waffenversteck gefunden. Im Januar 2021 kam die Frage auf, ob ein ExSoldat, der mittlerweile in Namibia lebt, dort militärische Übungen für seine alten Kameraden organisiert und kräftig dafür kassiert hat: Der Verstoß gegen Vergaberecht wird geprüft. Und jüngst wurde bekannt, dass sogar mehr als die im vergangenen Jahr als vermisst gemeldete Munitionsmenge wieder aufgefunden wurde: Von März bis Mai vergangenen Jahres konnten Soldaten gehortete oder womöglich auch gestohlene Munition abgeben, ohne dass Konsequenzen drohten.
Diese Amnestie-Aktion könnte für Baehrs Nach-Nachfolger, Brigadegeneral Markus Kreitmayr, unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen. Der heute 52-Jährige hat das Kommando mit seinen etwa 1600 Männern und Frauen, davon 300 Elitesoldaten, 2018 übernommen und soll einen Reformprozess leiten. Besuche von Journalisten sind derzeit unerwünscht: „Obwohl gerade im Jubiläumsjahr 2021, 25 Jahre nach der Gründung, die Öffentlichkeitsarbeit verstärkt werden sollte“, sagt ein Insider. Das Jubiläum wird entweder in aller Stille begangen oder gar ausfallen, weil die Auflösung des Verbandes immer noch eine der möglichen Optionen darstellt.
Das KSK wurde 1996 gegründet, weil die Bundeswehr während des Völkermords in Ruanda nicht in der Lage war, deutsche Staatsbürger zu retten. Die belgischen Kameraden übernahmen. Diese Schmach soll sich nicht wiederholen. Aus verschiedenen, dann aufgelösten Fallschirmjägerund Fernspähbataillonen wurden die leistungsfähigsten Soldaten übernommen – und mit ihnen einige üble, aber zumindestens sehr fragwürdige Traditionen und damit die emotionale Übernahme von Wertvorstellungen aus dunkler Vergangenheit. Kommandeure wie Brigadegeneral Reinhard Günzel stellten ihre Elitesoldaten in die Tradition der berüchtigten Wehrmachts-Spezialdivision „Brandenburg“. 2003 wurde Günzel entlassen, nachdem er eine als antisemitisch kritisierte Rede des Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann gelobt hatte.
Offensichtlich lief schon in jenen frühen Jahren die Führung des KSK völlig aus dem Ruder. In dem abgelegenen Standort Calw im Hochschwarzwald, geografisch und mental weit entfernt vom Alltag in Flecktarnoliv, verirrte sich der nächsthöhere Dienstvorgesetzte, derzeit der Kommandeur der Division Schnelle Kräfte im hessischen Stadtallendorf, zur vorgeschriebenen Dienstaufsicht nur selten. Die Einsätze in Afghanistan oder Libyen erledigte das KSK bravourös – aber durfte aus Angst vor Racheakten nicht darüber sprechen. Öffentliche Anerkennung blieb aus. Ein ungesundes Elitebewusstsein konnte sich entwickeln, auch weil die Grundsätze der Bundeswehr bewusst außer Kraft gesetzt wurden.
Soldaten, die an für den Einsatz notwendigen, international ausgerichteten Spezialausbildungen unter extremen Bedingungen von Härte, Kälte oder Hitze teilnehmen wollten, unterschrieben den Verzicht auf ihre Rechte aus der „Inneren Führung“, der Leitlinie für die Führung von Menschen und den richtigen Umgang miteinander. Die Maxime der „Inneren Führung“ist die strikte Orientierung an der Würde des Menschen – auch im Einsatz, der ethisch, rechtlich und politisch legitimiert sein muss.
Heute anerkennt der oberste Heeressoldat der Bundeswehr, Heeresinspekteur Alfons Mais, dass das KSK unter einem Geburtsfehler leidet. Allein im vergangenen Jahr, in seinem ersten Jahr als Inspekteur, war Mais zu sechs Besuchen in Calw gereist. Dabei reichten die Ursachen weit in die Vergangenheit zurück, heißt es in einem internen Schreiben, mit dem der General den Bundeswehr-Generalinspekteur Eberhard Zorn über den Sachstand der Aufklärung informiert hat. „Danach komme ich zu dem Schluss, dass organisatorische Fehlansätze in der Grundaufstellung des
KSK, kontinuierlicher Ausbildungs-, Übungs- und Einsatzdruck auf höchstem Niveau, fehlende Regenerationsphasen, andauernde Personallücken, Überlastung im administrativen Grundbetrieb sowie nicht vorhandene Überdruckkompensation über Jahre hinweg innerhalb der Spezialkräfte des Heeres ein Klima geschaffen haben, in dem Einzelne und Gruppen von Angehörigen des KSK in ihren individuellen Einstellungen und ihrer fachlichen Aufgabenwahrnehmung offensichtlich Orientierung, Maß und Mitte verloren haben“, stellt er fest.
Mit seinem Schreiben reagiert Mais auf jenen jüngsten Skandal um verschwundene und dann wieder aufgetauchte Munition: Ein besonders sensibles Thema, wie jeder ehemalige Wehrpflichtige, Zeitoder Berufssoldat aus seiner Zeit beim „Bund“weiß. Denn bei jedem Übungsschießen, egal ob mit Gefechtsoder Übungsmunition, wird jede Patrone sorgfältigst abgezählt dem Schützen überreicht. Nur wenige Vorschriften werden derart penibel eingehalten wie diese.
Beim KSK war es anders.
In einem Zwischenbericht vom September vergangenen Jahres der Task Force Munition und sicherheitsempfindliches Gerät des Heeres hieß es: „Die geltenden Vorschriften und Verfahren der Munitionsbewirtschaftung
wurden im KSK grundsätzlich nicht eingehalten.“Dabei ging es allerdings nicht nur um einzelne Verfehlungen, sondern um die grundsätzliche Einstellung der Eliteeinheit: „Nach den bisherigen Ermittlungen zeigt sich, dass ein großer Anteil der betroffenen Personen den Umgang mit Munition – teilweise auch vorschriftenwidrige Abläufe – als laufenden Routinebetrieb erlebt hat.“
Besonders problematisch: Der schlampige Umgang mit Munition schliff sich ein. Die Buchführung wurde dermaßen kreativ gestaltet, dass am Ende offensichtlich nichts auffiel und alle Zahlen wieder stimmten.
Der Verteidigungs-Fachjournalist Thomas Wiegold sagt: „Dabei spielte unter anderem eine Rolle, dass das KSK einen Großteil seiner Munition nicht in der Kaserne in Calw aufbewahrt, sondern in einem zwei Stunden Fahrt entfernten Depot – und dort wurde nicht nur die Inventur händisch auf Zetteln gemacht (und später ins IT-gestützte Materialsystem eingegeben): Bei der Übergabe des Kommandos in den vergangenen Jahren, zuletzt 2018 an den heutigen Kommandeur Markus Kreitmayr als neuen Chef, wurde das abgesetzte Depot gar nicht erst erwähnt.“Nochmals im Klartext: Bei der Amtsübergabe spielte das Thema Munition gar keine Rolle, der alte und der neue Chef unterschrieben blind und ohne Prüfung die brisanten Dokumente.
Kreitmayr aber bemerkte die Unregelmäßigkeiten beim Umgang mit Geld und Material, ordnete 2019 eine vorschriftenkonform durchzuführende jährliche Inventur der gebuchten Munitionsbestände an – die erste seit Jahren. Im Dezember 2019 lag das Ergebnis vor. Dabei ergaben sich erhebliche Bestandsdifferenzen: rund 7500 sogenannte Munitionsartikel zu viel, aber ein Unterbestand von rund 35 000 Munitionsartikel im Einsatz und rund 13 000 im Heimatbetrieb.
Thomas Wiegold hat recherchiert: „Während die große Menge fehlender Munition im Auslandseinsatz auf eine Übung in Afrika zurückzuführen und anscheinend erklärbar war, reagierte der KSKKommandeur vor allem auf den Fehlbestand im Heimatland: Mündlich gab er den Befehl, die anonyme Rückgabe von Munition zu ermöglichen.“Die Abgabe sollte ohne Konsequenzen bleiben. Bis Ende Mai vergangenen Jahres kamen nach Wiegolds Recherche rund 37 000 Munitionsartikel zusammen, weitere rund 13 000 noch danach. Nach Angaben der Bundeswehr waren es lediglich 46 400 Munitionsartikel, darunter immerhin zehn Prozent Gefechtsmunition. Bei dem Rest handele es sich um Übungs- und Manövermunition. Im Klartext: Die Soldaten gaben mehr gehortete oder womöglich auch gestohlene Munition zurück als in der Inventur vermisst worden war.
Absurd: Das komplett illegale Verfahren der Munitionsabgabe lief komplett geordnet in der Dienstzeit auf Ebene der Einheiten ab, die dann die gesammelte Munition geschlossen und ohne namentliche Erfassung bei der Fachgruppe Munition des KSK abgegeben hätten. „Sogenannte Amnestie-Boxen oder andere technische Aufnahmebehältnisse zur Abgabe gab es zu keiner Zeit“, wird Heeresinspekteur Alfons Mais zitiert.
Der Mais-Bericht findet für die von Kreitmayr mündlich angeordnete Amnestie-Aktion deutliche Worte: „Das Ergebnis der ,Aktion Fundmunition’ belegt einen grob fahrlässigen Umgang mit Munition auf allen Ebenen des KSK. Das Einbehalten dieser Mengen an Fundmunition durch Soldatinnen und Soldaten und die nachträglich organisierte anonyme Abgabe nach Aufforderung ist beispiellos und wird den Anforderungen an den sachgerechten und sicheren Umgang mit Munition und die Dienstaufsicht in der Munitionsbewirtschaftung nicht gerecht.“
In der Militärführung wird die Redlichkeit des erklärten Ziels der Aktion – lange Zeit geduldete Schwarzbestände von Munition unter Kontrolle zu bringen, damit weder Rechtsextreme noch Kriminelle sie in die Hände bekommen – anerkannt, der Weg aber als Regelverstoß eingeschätzt.
Strafrechtlich könnte es sich um die Tatbestände der Strafvereitelung im
Amt und den Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz handeln. Die Staatsanwaltschaft Tübingen ermittelt bereits.
Auf der politischen Ebene bringt die Amnestie-Aktion Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer
(CDU) in Bedrängnis. Sie hatte im vergangenen Jahr entschieden, dass sie die Elitetruppe der Bundeswehr wegen der Serie rechtsextremistischer Vorfälle seit 2017 radikal reformieren will. Die besonders skandalträchtige, als reformresistent geltende 2. Kompanie war bereits aufgelöst worden. Am 31. Oktober war ein Ultimatum abgelaufen: Die Ministerin hatte die Auflösung der gesamten Einheit KSK angeordnet, sollten sich die Elitesoldaten nicht läutern. Allerdings hatte Kramp-Karrenbauer auch immer wieder klargemacht, dass die Bundeswehr eine geheim operierende Einheit mit besonderen militärischen Fähigkeiten braucht. Der 31. Oktober verstrich, das KSK gibt es immer noch.
Die Ministerin muss handeln, denn nach Überzeugung politischer Beobachter kann die jetzt öffentlich gewordene Verfehlung der Truppe zu ihrem persönlichen Problem werden. Schon jetzt wird gefragt: Ist der Reformplan gescheitert? Hätte die Truppe nicht aufgelöst werden müssen? Die Verteidigungsexpertin der Grünen im Bundestag, die Ravensburger Abgeordnete Agnieszka Brugger, mahnt im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“die offenen Fragen an: „Die Ministerin muss sich äußern und sagen, welche Konsequenzen sie ziehen will.“
Bisher gelingt es der Ministerin, auch weil die öffentliche Aufmerksamkeit dem Megathema Corona gilt, in Deckung zu bleiben. Zwar sagt sie, der Umgang mit Munition und Sprengstoff in der Vergangenheit im KSK sei „vollkommen inakzeptabel“gewesen. Sie spricht von einer Kultur der Schlamperei, Disziplinlosigkeit sowie der systematischen Missachtung von Regeln. Die Verantwortlichkeiten und die Verantwortlichen müssten ermittelt und belangt werden. Und sie versichert, der Kommandeur habe das Recht auf ein transparentes und faires Verfahren. Dass das eigene Führungsteam mit dem Generalinspekteur und dem Büroleiter an der Spitze der Ministerin den Amnestie-Skandal lange verschwiegen, sei nur am Rande erwähnt.
In Bundeswehrkreisen wird erwartet, dass Kreitmayr mit einer Geldbuße davonkommt und etwas länger auf seine nächste Beförderung warten muss. Des Postens enthoben wird er nicht: Turnusmäßig wird er ohnehin nach der für Kommandeure üblichen Dienstzeit beim KSK im Sommer dieses Jahres Calw verlassen. Eng werden könnte es für Kreitmayrs Vorgesetzten, den Kommandeur der Division Schnelle Kräfte, Generalmajor Andreas Hannemann (59). Seine Karriere dürfte demnächst enden, falls ihm seit 2019 im Amt, Versäumnisse bei der Dienstaufsicht nachgewiesen werden.
Die Skandalserie bringt für die Angehörigen des KSK eine schwere Belastung mit sich. Der Krankenstand im Kommando ist besorgniserregend hoch. Über die gesundheitliche Lage hatte am Freitag zunächst das Magazin „Focus“berichtet. Nach diesen Angaben war fast ein Drittel der 300 KommandoElitesoldaten in Behandlung. Das Verteidigungsministerium bestätigte: „Rund 100 der zirka 1600 Angehörigen des Verbandes bekommen zur Zeit Unterstützung. Diese reicht vom Gespräch mit dem Standortpfarrer bis zur klinischen Behandlung“, sagte ein Sprecher des Heeres und begründet: „Hier spielen Ängste um die Auflösung des Standortes und Anfeindungen aus dem zivilen und privaten Umfeld eine Rolle.“Er versicherte, dass das Kommando Spezialkräfte weiterhin einsatzbereit sei. Ein behandelnder Facharzt für Psychiatrie sagte dem „Focus“, ein Großteil der erkrankten Soldaten leide unter der seelischen Störung „Moral Injury“. Dieser aus der angelsächsischen Militärmedizin stammende Fachbegriff beschreibe unter anderem den Verlust der moralischen Identität, hervorgerufen durch ständige Schuldzuweisungen aus der Öffentlichkeit und Vertrauensentzug militärischer Vorgesetzter.
Angesichts der Skandalserie und öffentlicher Debatte um den Zustand der Einheit ist auch am Standort Calw die Sorge groß, wie Oberbürgermeister Florian Kling im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“sagt. Auch er hätte gerne gefeiert: Das 25-Jahr-Jubiläum des KSK und die Gründung des Standortes vor 60 Jahren. Doch derzeit bleibt selbst Kling, der Zeitsoldat war und Hauptmann der Reserve ist, nur Sympathiewerbung im Internet: „KSK in Calw. Weil ihr einen wichtigen Job macht.“