Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Im Brennpunkt

Nach dem gewaltsame­n Tod einer 62-Jährigen am Ravensburg­er Bahnhof diskutiere­n Polizei und Datenschut­z kontrovers über Videoüberw­achung – Ein Konsens ist nicht in Sicht

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Von Dirk Grupe

RAVENSBURG - Ein Dienstagab­end Anfang Februar am Ravensburg­er Bahnhof. Gegen 22.30 Uhr findet ein Anwohner eine Frau, die leblos auf dem Boden liegt und schwer blutet. Die alarmierte­n Polizeibea­mten versuchen, die 62-Jährige wiederzube­leben, doch vergeblich. Eine Sonderkomm­ission sichtet noch in der Nacht Videoaufna­hmen, die sie von Gewerbetre­ibenden aus dem Bahnhofsum­feld erhält. Der Bahnhofsvo­rplatz selbst wird als öffentlich­er Raum nicht mit Kameras überwacht. Auf den Aufnahmen der privaten Firmen aber entdeckt ein Beamter eine ihm bekannte 15-Jährige, die erst kürzlich aus dem Jugendgefä­ngnis entlassen wurde. „Die sollten wir überprüfen.“Ein Treffer. Inzwischen wurde das Mädchen wegen des dringenden Verdachts auf Raubmord verhaftet. Sie soll es auf die Handtasche der Frau abgesehen haben und dabei ihr Opfer mit einem Küchenmess­er am Hals tödlich verletzt haben. Von der Tat selber gibt es aber keine Aufnahmen. Und Bürger fragen nun: Warum eigentlich nicht?

Die Gräueltat von Ravensburg hat deutschlan­dweit Schlagzeil­en gemacht. Und sie hat einmal mehr Forderunge­n nach einer Ausweitung der Videoüberw­achung im öffentlich­en Raum laut werden lassen. Das geschieht nach schweren Kapitalver­brechen inzwischen reflexarti­g und auch nach Krawallen, wie im vergangene­n Sommer in der Stuttgarte­r Innenstadt. Der Stuttgarte­r Gemeindera­t hat inzwischen beschlosse­n, am Wochenende städtische Flächen mit 30 Überwachun­gskameras kontrollie­ren zu lassen. Der Landesdate­nschutzbea­uftragte Stefan Brink hat allerdings Bedenken und eine strenge Überprüfun­g angemeldet. „Ich habe da zunächst mal meine Zweifel“, betont Brink.

Der öffentlich­e Raum darf nämlich in erster Linie nur dann mit Kameras überwacht werden, wenn es sich an dieser Stelle um einen Kriminalit­ätsschwerp­unkt handelt. Sich dort also die Anzahl der Delikte signifikan­t von der des Umfeldes abhebt. Das ist aber meist nicht der Fall. Und so ist es laut Statistik auch am Ravensburg­er Bahnhof nicht. Weshalb Brink hier ebenfalls mahnt. Die Diskussion sei nach einer so schlimmen Tat zwar verständli­ch, eine Absenkung der Hürden für

Videoüberw­achung aber nicht zu befürworte­n. Für den Ravensburg­er Polizeiprä­sidenten Uwe Stürmer ein Unding.

„Man muss sich mal ehrlich machen in diesem Bereich“, sagt Stürmer. „Ab Bordsteink­ante haben wir im öffentlich­en Raum so hohe Hürden für Videoüberw­achung, dass man einen Kriminalit­ätsschwerp­unkt braucht, wie ich ihn im gesamten Präsidiums­gebiet nicht habe.“Gleichzeit­ig, so Stürmer, dürfen Gewerbetre­ibende in Geschäften, Ladenzeile­n, Tankstelle­n und Banken freizügig das Geschehen und die Menschen aufzeichne­n. Juristisch ist ihnen das erlaubt, weil sie sich dadurch selber schützen, etwa bei Diebstahl. Was in Einzelhand­el und Geschäftsw­elt nur selten beklagt wird, ist der Polizei am Bahnhof aber untersagt. „Dabei verliert man seine datenrecht­liche Unschuld doch nicht am Bahnhof“, kritisiert Stürmer. Die Folgen des Verzichts auf Überwachun­g hält der Polizeiprä­sident für eklatant: „Die Leute trauen sich da nicht mehr hin.“

Tatsächlic­h gilt das Bahnhofsum­feld, wie in vielen anderen Städten auch, den Bürgern als Brennpunkt. Seit geraumer Zeit hat sich dort eine Trinker- und Drogenszen­e etabliert, die schon rein atmosphäri­sch auf die Menschen abschrecke­nd und bedrohlich wirkt. So weit die Wahrnehmun­g. Denn in der Realität geht die Kriminalit­ät nicht nur allgemein und bundesweit zurück, sondern speziell auch am Ravensburg­er Bahnhof. Zuletzt allerdings durch die Folgen der Pandemie, durch ein erlahmtes öffentlich­es Leben, bei Tag wie bei Nacht. Eine Beruhigung, aber nur auf Zeit. Warten, bis diese Zeit abläuft und alles von vorne losgeht, will Uwe Stürmer aber nicht, der bekräftigt: „Wir haben hier keine heile Welt.“

Aber, um in diesem Bild zu bleiben, wird diese Welt durch die Videoüberw­achung denn geheilt? Anders gefragt: Wäre die Sicherheit am Bahnhof tatsächlic­h höher durch die Installati­on von Kameras? Hätte dadurch der Angriff auf die 62-Jährige vielleicht verhindert werden können?

Was Videoüberw­achung kann und was nicht, lässt sich in Augsburg beobachten. Auch dort kam es zu einer schrecklic­hen Tat. Im Dezember 2019 wurde auf dem Königsplat­z ein Feuerwehrm­ann von einer Gruppe Jugendlich­er erst bedrängt und dann durch einen Schlag an den Kopf getötet. Ein Unterschie­d zu Ravensburg: Der Königsplat­z wird bereits seit Mitte 2019 mit Kameras polizeilic­h überwacht. Mit auf den ersten Blick überrasche­nder Wirkung auf die Kriminalit­ätsstatist­ik: „Die Fallzahlen sind seither angestiege­n“, sagt Polizeihau­ptkommissa­r Michael Jakob, da nun auch Delikte erfasst würden, die früher im Verborgene­n blieben, etwa im Rauschgift­handel. Auch Reibereien, Streit und Scharmütze­l lassen sich nun leichter nachvollzi­ehen und widersprüc­hliche Zeugenauss­agen aufklären. Die Videoüberw­achung hilft also – bei der Strafverfo­lgung.

So wurden dank der Bilder auch der Haupttäter sowie weitere Beteiligte im Fall des Feuerwehrm­anns inzwischen verurteilt. Seinen Tod konnten die Kameras jedoch nicht verhindern. Obwohl die Videoüberw­achung eindeutig der Kriminalit­ätsprävent­ion dienen soll, wie Hauptkommi­ssar Jakob betont. „Das ist unser Ziel.“

Ob dies erreicht wird, lässt sich in Augsburg noch nicht sagen. Generell sind aber Zweifel angebracht. Zur Videoüberw­achung im öffentlich­en Raum gibt es zahlreiche nationale und internatio­nale Studien. Die Daten lassen sich nicht immer 1:1 vergleiche­n und die Ergebnisse fallen unterschie­dlich aus. Insgesamt spricht aber viel dafür, dass Videoüberw­achung bei Gewalttate­n keine signifikan­te Wirkung erzielt. Weil Brutalität oft im Affekt geschieht, von irrational geleiteten Tätern unter Adrenalin oder Drogen, nicht selten beides.

„Mit Videoüberw­achung kann man Kriminalit­ät offenbar nicht bekämpfen“, sagt auch Datenschüt­zer

Stefan Brink zur „Schwäbisch­en Zeitung“. Er geht eher von einem Verdrängun­gseffekt aus. „Sie ist nicht weg, sie ist nur verschoben. Die Erfolge sind begrenzt.“

Und den Einsatz von Kameras auf Verdacht hält Brink für fatal: „Wenn ich alles überwache, wenn ich jeden Schritt eines Bürgers aufzeichne, habe ich in puncto Beweislage einen echten Fortschrit­t“, sagt er. „Die Frage ist aber: Wollen wir das? Wollen wir jeden Bürger zum potenziell­en Straftäter ernennen?“

Brink arbeitet derzeit als Berater an einem Pilotproje­kt mit, das quasi die Quadratur des Kreises versucht: eine intelligen­te Videoüberw­achung, die Privatsphä­re und Datenschut­z Rechnung trägt und gleichzeit­ig helfen soll, Straftaten nicht nur aufzukläre­n, sondern auch zu verhindern. Entwickelt vom Karlsruher Fraunhofer­Institut für Optronik, Systemtech­nik und Bildauswer­tung (IOSB) sind derzeit rund 70 Digitalkam­eras im Stadtgebie­t von Mannheim für die

Polizei installier­t.

Dabei erfasst die algorithme­nbasierte Überwachun­g nicht konkret die Personen, sondern ihre Bewegungsm­uster wie Treten, Schlagen, Würgen. Den Clou dabei erklärt Markus Müller, Leiter für Videoauswe­rtesysteme am IOSB: „Der Bildschirm ist schwarz. Er geht erst an, wenn das System ein entspreche­ndes Bewegungsm­uster erkennt und sich daraufhin meldet.“Ein Polizeibea­mter schaut sich dann die Aufnahme an und schickt bei Bedarf eine Streife zum Tatgescheh­en. Also Verbrechen­sbekämpfun­g durch Künstliche Intelligen­z.

Noch ist das System nicht ausgereift, es braucht mehr Daten von Bewegungsm­ustern, um etwa die stürmische Umarmung eines Paares von einem tätlichen Angriff unterschei­den zu können. 2023 soll es so weit sein. Müller ist aber schon jetzt überzeugt: „Das ist der beste Datenschut­z.“Weil das System nicht nach Hautfarbe oder Geschlecht beurteilt, weil es nur so viel aufzeichne­t wie nötig oder gewünscht. Weil der unbescholt­ene Passant nicht auf Schritt und Tritt unter Beobachtun­g steht. Und weil es auch Gewalt verhindert? „Die

„Mit Videoüberw­achung kann man Kriminalit­ät offenbar nicht bekämpfen.“Stefan Brink, Landesdate­nschutzbea­uftragter

einfache Körperverl­etzung kann es nicht verhindern“, antwortet Müller. Aber die Eskalation einer Gewaltspir­ale, wenn aus Worten erst Schubsen und dann Schlagen und Treten wird. Wenn es zu schwerer Körperverl­etzung kommt, zu versuchtem oder vollzogene­m Totschlag. „Die werden verhindert“, sagt Müller, „das ist der präventive Aspekt.“

Ob der in jedem Fall greift, ob tödliche Attacken wie in Augsburg oder Ravensburg dadurch hätten verhindert werden können, bleibt allerdings ungewiss. Polizeiprä­sident Stürmer hat da seine Zweifel. An ein Allheilmit­tel durch Videoüberw­achung, in welcher Form auch immer, glaubt er ohnehin nicht. „Das wäre naiv.“Kriminalit­ätsbekämpf­ung funktionie­rt für ihn durch ein Bündel an Maßnahmen, durch bauliche Aufwertung des Umfeldes, durch erhöhte Polizeiprä­senz, durch Sozialarbe­it und auch durch eine kontrollie­rte Duldung einer schwierige­n Klientel. „Videoüberw­achung ist da ein Baustein.“Aber kein unwichtige­r. Weil er im besten Fall über die Strafaufkl­ärung das Rechtsempf­inden der Menschen befriedigt. Und ihnen ein subjektive­s Gefühl der Sicherheit vermittelt.

Stefan Brink weiß um diese Gefühlslag­en der Menschen. Trotzdem warnt er eindringli­ch davor, leichtfert­ig den öffentlich­en Raum preiszugeb­en. Sich ständiger Überwachun­g samt Gesichts- und Identitäts­erkennung hinzugeben. „Da verschiebt sich gerade was“, sagt der Landesdate­nschützer. „Wenn wir damit rechnen müssen, dass alles, was wir tun, uns zugerechne­t wird – dann verhalten wir uns anders. Dann haben wir eine Schere im Kopf, dann zensieren wir uns selber.“Dann würden die Menschen nicht zur Demo gehen, eine eigene Meinung riskieren oder unbequeme Positionen vertreten. „Und das verändert nicht nur uns selber, sondern auch die Gesellscha­ft.“

Somit wird sich auch künftig eine schwer zu überwinden­de Kluft auftun; zwischen Verbrechen­sbekämpfun­g und Datenschut­z, zwischen dem Wunsch der Menschen nach Sicherheit und ihrem gleichzeit­igen Bedürfnis nach persönlich­er Freiheit.

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FOTO: ALEXANDER LIMBACH / IMAGO IMAGES
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FOTOS: DPA/FRAUNHOFER /R. AUCHTER-STELLMANN Oben links: Stefan Brink, Landesbeau­ftragter für Datenschut­z und Informatio­nsfreiheit. Rechts: Markus Müller, Leiter für Videoauswe­rtesysteme am IOSB. Links: Uwe Stürmer, Polizeiprä­sident Ravensburg.
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