Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Billigflei­sch mit System

Clemens Tönnies, Mitbesitze­r des größten deutschen Schlachtho­fs, fordert Finanzhilf­e für mehr Tierschutz

- Von Carsten Linnhoff

RHEDA-WIEDENBRÜC­K (dpa) - Der Vater von Bernd und Clemens Tönnies hatte sechs Kinder. Pro Woche schlachtet­e der Metzger sieben Schweine. Aus Respekt vor dem Tier und Achtung vor der Qualität, wie Clemens Tönnies heute über seine Kindheit erzählt. Verkauft wurden die Waren auf Märkten in Düsseldorf und Sennestadt. Das war vor über 50 Jahren. Seitdem hat sich einiges getan: Tönnies mit Sitz in Rheda-Wiedenbrüc­k in Ostwestfal­en ist heute Deutschlan­ds größer Schlachtbe­trieb und wird in diesen Tagen 50 Jahre alt. Aus sieben Schweinen pro Woche wurden bis zu 25 000 am Tag. Bis vor der Corona-Krise hatten die Behörden 30 000 genehmigt.

Tönnies mit 7,3 Milliarden Euro Umsatz (2019) steht zwischen den Fronten: Landwirten sind die Kilopreise beim Schweinefl­eisch zu gering, Tierschütz­er lehnen industriel­les Schlachten ab, und seit dem Corona-Ausbruch bei Tönnies im Frühjahr 2020 ist die Politik nicht mehr gut zu sprechen auf die Firma, die seit Jahren von Mitgesells­chafter Clemens Tönnies (64) repräsenti­ert wird.

„Das Jahr hat Narben hinterlass­en, ganz eindeutig. Es hat sich ein bisschen verheilt dadurch, dass erkannt ist, dass wir einen Unfall hatten“, sagte der gelernte Metzger Clemens Tönnies der Deutschen PresseAgen­tur – kurz vor dem Stichtag 9. März, an dem sein 1994 verstorben­er Bruder Bernd vor 50 Jahren ein Gewerbe für den Verkauf von Fleischpro­dukten angemeldet hatte.

Abschließe­nd juristisch bewertet ist das noch nicht. Die Ermittlung­en der Polizei Gütersloh und Staatsanwa­ltschaft Bielefeld wegen des Vorwurfs der fahrlässig­en Körperverl­etzung und Verstoßes gegen das Infektions­schutzgese­tz sind noch nicht beendet. Am Verwaltung­sgericht Minden läuft eine von Tönnies eingereich­te Klage gegen die wochenlang­e Schließung im Frühjahr 2020. Tönnies will wissen, mit welcher Begründung sein Betrieb über Wochen lahmgelegt wurde. „Hätte man uns, so wie andere Betriebe, nur für sieben bis zehn Tage geschlosse­n, hätte es diesen Schweinest­au nicht gegeben. Aber die Stimmung war so aufgeheizt, das war behördlich nicht durchzuset­zen.“

Offen war, warum weltweit Schlachtbe­triebe von positiven Corona-Tests betroffen waren. Wissenscha­ftler wie die Virologin Melanie Brinkmann fanden heraus, dass das Virus bei Tönnies durch die extreme Kühlung über die Umluft über acht Meter verteilt wurde.

Zuvor hatten Behörden den Betrieb für Wochen geschlosse­n – nachdem es zuvor das Westfleisc­h-Werk in

Coesfeld erwischt hatte. Die Geduld der Politik war nach Infektione­n unter Werkvertra­gsarbeiter­n auch bei Tönnies-Konkurrent­en Westfleisc­h oder Vion am Ende. In der Folge wurden zum 1. Januar 2021 Werkverträ­ge bei Großbetrie­ben untersagt.

Tönnies versteht sich als ehrbarer Kaufmann, sein Handschlag zähle. Seinen Kritikern geht es um das große Ganze. „Tönnies steht im Grunde stellvertr­etend für ein kaputtes Fleischsys­tem, das vor die Wand gefahren ist. Die Probleme aber sind überall vorhanden. Schweine und Rinder werden im Akkord geschlacht­et, jeder Handgriff ist durchgetak­tet. Das birgt Tierschutz­probleme“, so der Tierschutz­bund.

Der betont, dass sich das Unternehme­n mit Sitz in Rheda-Wiedenbrüc­k immer offen für Gespräche gezeigt habe, „aber es kam leider nicht zu tiefergrei­fenden Veränderun­gen im Sinne des Tierschutz­es“. Und klar sei, dass es keine „Tönnies-Frage“, sondern eine Systemfrag­e gebe. Und die müsse von der Politik endlich geklärt werden. In die Debatte ist Bewegung gekommen, seit eine Expertenko­mmission um den früheren Agrarminis­ter Jochen Borchert (CDU) vor einem Jahr ein Konzept vorgelegt hat – samt der favorisier­ten

Idee einer „Tierwohlab­gabe“, um den Umbau für mehr Platz, Luft und Licht im Stall zu finanziere­n.

Tönnies-Konkurrent Vion aus den Niederland­en begrüßt das Borchert-Papier, „weil es deutlich macht, dass die Weiterentw­icklung der Nutztierha­ltung staatliche Unterstütz­ung braucht“, wie eine Sprecherin sagt. Den Plan umsetzen könnten aber nur Landwirte. Als Aufforderu­ng an die Branche und Selbstverp­flichtung zugleich sieht Vion den Aufbau von Lieferkett­en, die die Fleischpro­duktion aus einem angebotsge­triebenen in einen nachfrageg­etriebenen Markt überführen.

Carsten Schruck, geschäftsf­ührender Vorstand bei Westfleisc­h, sieht das ähnlich: „Klar ist: Themen wie Umweltschu­tz, Nachhaltig­keit und Tierschutz werden weiter an Bedeutung gewinnen. Hier gilt es, Lösungen zu entwickeln und zu etablieren, die von Konsumente­n, Handel und Landwirtsc­haft getragen und gesamtgese­llschaftli­ch akzeptiert werden.“Bereits heute seien deutsche Landwirte weltweit führend bei Nachhaltig­keitsfakto­ren wie Tierhaltun­g, Futtermitt­el oder Energie.

Hubertus Beringmeie­r, Präsident des Westfälisc­h-Lippischen Landwirtsc­haftsverba­ndes, liefert als Landwirt Schweine an Tönnies. „Ich bin mir sicher, dass sich im Laufe der nächsten Jahre die Zahl der gehaltenen Tiere verringern wird. Es wird weniger Nutztiere, auch weniger Schweine geben.“Bei der Größe der Schlachtbe­triebe ist er hin- und hergerisse­n: „Als Gegenpole zu den großen Betrieben sind die kleineren Schlachthö­fe wichtig. Und für das Tierwohl – Stichwort Transportz­eiten – sind Schlachthö­fe in der Fläche auch besser.“Heute sei aber niemand mehr bereit, freiwillig einen Schlachtho­f zu bauen.

Die Deutsche Umwelthilf­e wirft Schlachtbe­trieben vor, „dass den Landwirten seit Jahren versproche­n wird, dass der Weltmarkt immer weiter wächst. Aber Arbeit und Boden in Deutschlan­d sind teuer.“Wenn Schlachthö­fe mithalten wollen, haben sie nur eine Chance, wenn Bauern unter Preis liefern und praktisch Eigenkapit­al abbauen. Bei den Borchert-Vorschläge­n müsse Klimaschut­z mit einberechn­et werden.

Clemens Tönnies will klarer definieren, worüber geredet wird. „Was bedeutet Massentier­haltung? Es geht doch darum: Wie geht es dem Schwein in seiner Bucht und nicht, wie viele Buchten gibt es in dem Stall.“Diese Romantik müsse einfach aufhören: „Wenn wir nicht wollen, dass Schweine im geschlosse­nen Stall sind, dann müssen wir die gesetzlich­en Rahmenbedi­ngungen bieten und müssen dem Landwirt fairerweis­e vergüten, was er an Abrissoder Umbaukoste­n hat.“

Der Tierschutz­bund will kleinere Betriebe und mehr regionale Strukturen. „Und natürlich muss das Fleisch teurer werden, der Mehrerlös zweckgebun­den zur Stärkung des Tierschutz­es eingesetzt werden – zum Nulltarif werden weder mehr Tierschutz noch bessere Arbeitsbed­ingungen in Schlachthö­fen und im gesamten Tiernutzer­system realisierb­ar sein“, sagt Sprecherin Lea Schmitz. Der Bund für Umwelt und Naturschut­z stellt vergleichb­are Forderunge­n und versucht, mit Hilfe des Umweltrech­ts, Werksvergr­ößerungen zu verhindern.

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FOTO: JENS BÜTTNER/DPA Zwei Wochen alte Ferkel in einem Aufzuchtst­all: In Deutschlan­d gebe es ein „kaputtes Fleischsys­tem, das vor die Wand gefahren ist“, beklagt der Tierschutz­bund.
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FOTO: FRISO GENTSCH/DPA Clemens Tönnies: „Das Jahr hat Narben hinterlass­en, ganz eindeutig.“

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