Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Immer mehr Tote und eine Mutante
Brasilien fehlt es in der Pandemie an Impfstoff, Narkosemitteln und Sauerstoffvorräten
MEXIKO-STADT - In Brasilien gerät die Corona-Pandemie immer weiter außer Kontrolle. Binnen 24 Stunden fielen mehr als 3000 Menschen der Viruskrankheit zum Opfer. Laut dem Gesundheitsministerium starben am Dienstag 3251 Brasilianer im Zusammenhang mit dem Coronavirus. Das ist ein neuer Höchstwert, der auch mit dem Auftreten einer hochansteckenden Variante zu tun hat.
Präsident Jair Bolsonaro zeigte sich am Dienstagabend (Ortszeit) in einer Fernsehansprache erstmals selbst annähernd betroffen: „Wir wissen nicht, wie lange wir diese Krise noch ausstehen müssen, aber ich will die Brasilianer beruhigen. Die Impfungen sind garantiert“, sagte der ultrarechte Staatschef, der Lockdown-Maßnahmen bislang verhinderte und es versäumte, frühzeitig Vakzine einzukaufen. Das Jahr 2021 wolle er dennoch zum Jahr der Impfungen machen, unterstrich Bolsonaro. Zuletzt zeigte sich der Präsident sogar mit Mundschutz und lobte die Impfungen. Beides hatte er monatelang verhöhnt und abgelehnt. Er hat zudem seit Ausbruch der Pandemie die Gefahr des Virus heruntergespielt und eine Erkrankung als eine „kleine Grippe“bezeichnet. Doch sind im größten Land Lateinamerikas seit Beginn der Pandemie fast 300 000 Menschen gestorben – in absoluten Zahlen der weltweit zweithöchste Wert nach den USA.
Während Bolsonaros TV-Ansprache machten in mehr als einem Dutzend Städten des Landes die Menschen ihrem Unmut mit den „panelaços“Luft, dem Schlagen auf Pfannen und Töpfe. Nach einer Umfrage des
Meinungsforschungsinstituts Datafolha halten 54 Prozent der Brasilianer das Krisenmanagement Bolsonaros für schlecht, sechs Prozent mehr als im Januar.
Nach Angaben der Gesundheitsstiftung Fiocruz durchlebt Brasilien gerade den „größten Kollaps des Gesundheitssystems und der Krankenhäuser in seiner Geschichte“. Experten fordern wegen der Auslastung der Intensivbetten, alle nicht essenziellen Aktivitäten für mindestens 14 Tage herunterzufahren.
Im bevölkerungsreichsten und wohlhabendsten Bundesstaat São Paulo sind die Krankenhäuser voll und die Intensivstationen zu 91 Prozent ausgelastet. In den meisten anderen Staaten ist die Lage vergleichbar verheerend. Vergangene Woche meldeten 18 der 26 Bundesstaaten, dass die Narkosemittel für die Intubationen knapp würden und dass in mehr als 100 Städten die Sauerstoffvorräte zur Neige gingen. Die Frente Nacional de Prefeitos, ein Zusammenschluss von Bürgermeistern aus über 400 Städten, forderte die Zentralregierung auf, die Krankenhäuser mit Sedativa und Sauerstoff zu versorgen, sonst seien die Vorräte innerhalb von 14 Tagen aufgebraucht, Patienten drohten dann zu ersticken.
Epidemiologen warnen bereits, von Brasilien könnte die neue Virusvariante um die Welt gehen, die sich im Amazonasbecken ausbreitet und schon auf die Nachbarländer überzuspringen droht. „Brasilien ist eine Bedrohung für die globale Gesundheit“, sagte der Mediziner Pedro Hallal aus dem Bundesstaat Rio Grande do Sul vor einigen Tagen. Nur ein rigider Lockdown mit einer verbesserten Impfkampagne könne eine dramatische Zuspitzung der Krise mit internationalen Folgen verhindern.
In Brasilien wird der Astra-Zeneca-Impfstoff gegeben, auch das chinesische Mittel Sinovac, das aber mittlerweile ausgeht. Bolsonaro weigerte sich am Anfang aus ideologischen Gründen, das Vakzin in Peking zu kaufen. Nun wird es doch geliefert und in Brasilien selbst produziert. Doch China verzögert die Zulieferung der Grundstoffe für die Produktion und setzt diese als politisches Druckmittel ein. So stottert die Impfkampagne schon wieder. Bis Dienstag waren 12,79 Millionen Brasilianer mit der ersten Dosis versorgt worden. Das sind 6,04 Prozent der Bevölkerung. Immerhin hat die Regierung jetzt auch Lieferverträge für die Vakzine Sputnik, Biontech-Pfizer und Johnson & Johnson abgeschlossen.