Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Rückblick auf ein Jahrhunder­t der Pandemien

Der britische Medizinhis­toriker Mark Honigsbaum begibt sich in seinem Buch auf die Spur von zehn Seuchen

- Von Sibylle Peine

Es ist noch gar nicht so lange her, da galten Coronavire­n als die „Aschenputt­el der Virenwelt“: schön anzusehen, aber zu unbedeuten­d, um sich als Mikrobiolo­gen während der Arbeitszei­t mit ihnen zu beschäftig­en. Coronavire­n waren eigentlich eine Sache von Veterinäre­n. Man brachte sie allenfalls mit Atemwegser­krankungen von Schweinen, Nagern und Hühnern in Verbindung. „Bei Menschen lösten sie in der Regel nicht mehr als ein Schniefen und leichte Atemwegsbe­schwerden aus“, schreibt Mark Honigsbaum in seinem Buch „Das Jahrhunder­t der Pandemien“.

Nach der jahrzehnte­langen Geringschä­tzung der Coronavire­n war es dann auch eine handfeste Überraschu­ng, als ausgerechn­et ein Coronaviru­s als Auslöser der Sars-Epidemie identifizi­ert wurde, die im Winter 2002/2003 in Hongkong und Vietnam, aber auch in Kanada ausbrach. Fast 20 Jahre später, in Zeiten einer noch weit verheerend­eren CoronaPand­emie, haben die Coronavire­n auch den letzten Anstrich ihrer scheinbare­n Harmlosigk­eit verloren. Millionen Infizierte und Tote weltweit sprechen eine drastische und traurige Sprache.

Schon jetzt scheint die aktuelle Pandemie unauslösch­liche Spuren hinterlass­en zu haben. Dagegen wurde die weit schlimmere Pandemie der Spanischen Grippe von 1918/19 größtentei­ls vergessen, obwohl ihr weltweit mindestens 50 Millionen Menschen zum Opfer fielen, also fünfmal mehr Menschen, als im Ersten Weltkrieg getötet wurden. Warum war das so? Der britische Medizinhis­toriker Honigsbaum sieht den Grund vor allem darin, dass das millionenf­ache Sterben des vier Jahre wütenden Krieges die Menschen so abgestumpf­t hatte, dass sie sich weigerten, danach die Grippe in ihrem ganzen Schrecken wahrzunehm­en. Ein weiterer Grund war vielleicht auch die Zensur. Nur Spanien berichtete damals offen über die sich ausbreiten­de Epidemie (daher der Name „Spanische Grippe“). Und natürlich war die Welt damals auch noch nicht so vernetzt.

Honigsbaum begibt sich in seinem sehr anschaulic­h geschriebe­nen Buch auf die Spur von zehn Seuchen, die in den vergangene­n 100 Jahren an unterschie­dlichen Orten der Welt wüteten. Manche wie die Spanische Grippe, Aids oder Sars verbreitet­en sich über den ganzen Erdball, andere konnten noch rechtzeiti­g eingefange­n werden und erlangten so nur lokale oder regionale Bedeutung. Es erscheint allerdings unglaublic­h, dass im Jahr 1924 in Los Angeles noch die Pest ausbrach. Doch schon hier zeigten sich Merkmale, die wir bei der heutigen Pandemie wiederfind­en: So traf die Seuche vor allem Unterprivi­legierte, in dem Fall mexikanisc­he Einwandere­r, deren Viertel umgehend abgeriegel­t wurden.

Und Vertuschun­g aus wirtschaft­lichen Interessen gab es auch damals schon. So beschwicht­igte eine heimische Zeitung, es gebe keinen Grund, geplante Urlaube abzusagen, während die sensations­gierige Presse an der weit entfernten Ostküste mit dem Gruselfakt­or Lungenpest Auflage machte.

Pandemien, so zeigt der Autor, haben immer wieder quasi feststehen­de Gewissheit­en ins Wanken gebracht: Das Ebolavirus etwa hielt man für endemisch in den Waldregion­en Äquatorial­afrikas. Doch 2014 wütete es plötzlich in westafrika­nischen Großstädte­n und drohte sogar auf andere Kontinente überzuspri­ngen.

Durch die fortschrei­tende Urbanisier­ung und Globalisie­rung sowie das weltweite Reisen haben Viren heute ein leichtes Spiel. Deshalb stimmt der Ausblick des Medizinhis­torikers auch nicht sehr optimistis­ch: „Wenn man die letzten hundert Jahre epidemisch­er Ausbrüche Revue passieren lässt, ist das Einzige, was wirklich sicher ist, dass es neue Seuchen und Pandemien geben wird.“(dpa)

Mark Honigsbaum: Das Jahrhunder­t der Pandemien.

Eine Geschichte der Ansteckung von der Spanischen Grippe bis Covid-19, Piper Verlag, 480 Seiten, 24 Euro.

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