Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Aus der Alkoholsucht in ein neues Leben
Ein Betroffener erzählt seine Geschichte und möchte damit andere ermutigen
SIGMARINGEN - Weniger Kontakte, weniger Hobbys, mehr Zeit zu Hause – die Coronapandemie setzt vielen Menschen zu. Dazu gehören auch Süchtige, wie es Harald D. (Name von der Redaktion geändert) war. Für ihn sind Routinen nach wie vor wichtig, denn D. war Alkoholiker. Im Gespräch mit der SZ erzählt er von dieser Zeit und seinem Erfolg, trocken zu werden.
Einst verheiratet, Familienvater, beruflich und sozial integriert, eigentlich fest im Leben stehend. Eigentlich - bis zum Absturz. Ohne einen besonderen Schicksalsschlag, ohne einen konkreten Auslöser. „Ich war einfach nur oft unterwegs, habe keine Feier ausgelassen, irgendwann fing ich an, immer mehr und auch für mich allein zu trinken“, beschreibt der 68-Jährige die Anfänge des schleichenden und hinterhältigen Prozesses zur Alkoholsucht. Er zog sich zurück, trank zuhause und heimlich auf Arbeit, es gab keinen Tag mehr ohne Alkohol. Während sein Umfeld seine Sucht wahrnahm, verdrängte er die Realität. „Ich habe es so nicht betrachtet, habe es verdrängt, aber genau dieses Verharmlosen ist ein typisches Anzeichen der Abhängigkeit“, sagt er. Für D. wurde der Alkohol zum Betäubungsmittel, zu einer Art Konfliktbewältigung. „Ich konnte die Probleme ausblenden, zumindest kurzzeitig.“Sobald die Wirkung des Alkohols jedoch nachließ, waren die Probleme weder gelöst noch verschwunden. Im Alter von 52 Jahren gestand sich D. erstmals ein, dass er ein ernsthaftes Alkoholproblem hat. „Aber dieser
Sucht, diesem Verlangen kannst du nicht allein mit Willenskraft begegnen.“Es braucht zwingend ärztliche Hilfe und die eigene Kapitulation vor dem Alkohol, für sich selbst, für niemand anderen.
„Der Alkoholiker zieht die Notbremse erst, wenn er unten aufgeschlagen ist“, sagt D. Dieser Zeitpunkt kam für ihn zwei Jahre nach seiner Erkenntnis. „Du blickst in den Spiegel und fragst dich, wie es soweit kommen konnte.“Er ging zum Arzt, zum Psychologen und anschließend zur Therapie. Der Entzug war schlimm, konnte aber medikamentös unterstützt werden. „Viel schlimmer sind die seelischen
Schäden, mit denen du den Rest deines Lebens klarkommen musst“, sagt der 68-Jährige. Denn der Alkohol greift nicht nur stark die Physis, sondern auch die Psyche an.
Seit 14 Jahren ist D. „trocken“. Er hat sein altes, vom Alkohol fremdgesteuertes Leben hinter sich gelassen, sich von seiner Frau getrennt und die Arbeitsstelle gewechselt. Denn auch das Umfeld spiele eine ganz gravierende Rolle: „Mit gut gemeinten Ratschlägen und Vorhaltungen ist dir am wenigsten geholfen.“
Rückblickend betrachtet, hat D. zwei Leben - eines vor und eines nach dem Entzug. „Die Belohnung ist definitiv das Leben danach.“D. lebt seit 13 Jahren in einer festen Partnerschaft, treibt Sport und kann sich als Rentner beruflich zurücklehnen. Eines ist ihm besonders wichtig: die Selbsthilfegruppe der „Anonymen Alkoholiker“. Ein fester Baustein in einer festen Wochenstruktur, die für ihn unabdingbar ist. „Die Gefahr des Rückfalls ist immer da - wir wissen, wovon wir reden und wie es funktioniert.“Er möchte andere Betroffene ermutigen vorbeizukommen, Hilfe anzunehmen, egal, ob vor oder nach der Therapie. „Trinken ist deine Sache. Wenn du damit aufhören willst, ist das unsere Sache“, so der Slogan der Selbsthilfegruppe.
Daher möchte D. gemeinsam mit einigen anderen Mitgliedern der Selbsthilfegruppe an der Vesperkirche teilnehmen, die die evangelische Kirche geplant hat, die aber wegen der Pandemie verschoben wurde. Dort möchte er ins Gespräch mit anderen kommen und das Tabuthema Alkoholsucht offen ansprechen. „Es ist eine anerkannte Krankheit und ich wehre mich dagegen, es als eine Charakterschwäche abzutun.“Vielmehr möchte er über die „Volksdroge Nummer 1“aufklären, Hilfesuchenden die Hand reichen und die Gesellschaft für das Thema sensibilisieren.
„Ich war einfach nur oft unterwegs, habe keine Feier ausgelassen“, berichtet der Betroffene über seine Alkoholsucht.
Selbsthilfegruppe
Die „Anonyme Alkoholiker“trifft sich 14-tägig, immer dienstags in den geraden Kalenderwochen, um 19.30 Uhr in der Karlstraße 29 in Sigmaringen. Kontaktaufnahme erwünscht, aber nicht zwingend erforderlich, unter Telefon 0171/410 87 11.