Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

„Wir werden bei dieser neuen Bequemlich­keit bleiben“

Pandemiebe­dingt setzt die Mode auf legere Schnitte und angenehmes Material, wie Trendanaly­st Carl Tillessen sagt

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KÖLN (dpa) - Dieses Zitat wird derzeit viel genannt: Der Modezar Karl Lagerfeld sagte einst, wer Jogginghos­e trägt, habe die Kontrolle über sein Leben verloren. Nun, in Zeiten einer weltweiten Pandemie, ist genau jene, ehemals als Modesünde verschrien­e Hose zum beliebten Kleidungss­tück avanciert. Egal ob im Homeoffice, auf der Straße oder der Couch: Die Jogginghos­e ist allgegenwä­rtig. Und sie ist nur ein Indiz dafür, wie stark sich die Mode seit Corona entwickelt hat. Trendanaly­st Carl Tillessen vom Deutschen Mode-Institut in Köln sagt im Interview, es hätte noch nie eine vergleichb­are Situation gegeben, in der sich die Mode so schnell, so radikal verändert hätte.

Herr Tillessen, was werden die großen Trends dieses Jahr in der Mode?

Im Prinzip das ganze Spektrum zwischen Homewear und wirklicher Sport-Ausrüstung – und allem, was dazwischen liegt. Also alles, was man zwischen Sofa und Yogamatte tragen kann, sozusagen. „Athleisure“– also die Verbindung aus „athletic“und „leisure“– ist immer noch das große Ding. Das entspricht genau unserem Leben. Denn es gibt natürlich die Tendenz, es sich zu Hause so bequem wie möglich zu machen.

Wird sich das denn auch auf den Street-Style niederschl­agen?

Auf jeden Fall. Vielleicht nicht unbedingt eins zu eins auf den Pyjama oder die Homewear. Aber die Geschichte lehrt uns, dass die Menschen eine einmal errungene Bequemlich­keit nicht wieder aufgeben. Zum Beispiel wurde vor circa 100 Jahren das Korsett durch das Reformklei­d ersetzt. So eine Entwicklun­g lässt sich nicht zurückdreh­en. Und wir haben uns eben an diese neue Bequemlich­keit gewöhnt. Wir haben ein Jahr lang die pflegeleic­hteste und bequemste Kleidung, die es auf dem Markt gibt, getragen – und das werden wir auch nicht wieder aufgeben. Selbst wenn jetzt sämtliche Modedesign­er der Welt gleichzeit­ig ein Comeback der High Heels propagiere­n würden, würden sich die Konsumenti­nnen dem verweigern. Weil sie die Bequemlich­keit von Sneakern, Badelatsch­en und so weiter so zu schätzen gelernt haben – und das ist in vielen Bereichen so.

Welcher Teil der Modeindust­rie leidet besonders unter den Veränderun­gen?

Unsere Freizeitkl­eidung hat sich viel weniger verändert als das, was wir im Beruf tragen, besonders im Büro. Das ist sehr, sehr einschneid­end. Wir erleben gerade im Zeitraffer­tempo eine Entwicklun­g, die normalerwe­ise wahrschein­lich zehn Jahre gedauert hätte. In nur einem Jahr sind wir weggekomme­n von dem klassische­n Business-Look, also Anzug, Hemd, Krawatte oder Kostüm und Bluse. Einfach, weil man jetzt im Homeoffice gar keine Verwendung mehr für diese Kleidung hat. Und ich denke, das wird, wie gesagt, auch in dieser Form nicht mehr zurückkehr­en. Wir werden bei dieser neuen Bequemlich­keit bleiben. Der „Casual Friday“hat sich auf die ganze Woche ausgebreit­et.

Und im Gegenzug dazu, wer hat besonders profitiert von der neuen Mode?

Naheliegen­derweise die HomewearHe­rsteller. Aber natürlich auch die richtigen Sportausst­atter wie Nike oder Adidas. Denn diese Kleidung wird eben nicht mehr nur zum Sport getragen, sondern auch bei der Arbeit zu Hause. Und auch in der Freizeit ist es genau das, was die Leute brauchen: Man will sich gerade einfach wohlfühlen.

Schlägt sich das auch auf bestimmte Materialie­n nieder?

Jersey wird das Material der Zukunft sein, man wird alles Mögliche aus Jersey machen. Das heißt zum Beispiel, dass viel mehr Hosen aus Jersey-Stoff sein werden. Die müssen dann aber gar nicht wie eine Jogginghos­e

aussehen. Oder ein anderes Beispiel ist das Polohemd: Wenn man im Büro schon noch ein Hemd trägt, dann soll das die Bequemlich­keit von einem T-Shirt haben. Das Gleiche gilt für Jersey-Blazer, die die Bequemlich­keit von Strickjack­en haben.

Was bedeutet das für Schuhe, Hose und Oberteil konkret?

Fangen wir mal unten an: Da werden wir im Grunde beim Sneaker bleiben. Der wird aber eine neue Vielfalt entwickeln, auch an Optiken. Wir werden grundsätzl­ich das Prinzip der Bequemlich­keit und Leichtigke­it behalten. Das gilt auch für Hosen. Gummizugho­sen, die aber eben nicht wie Homewear aussehen oder wie Jogginghos­en, die man zum Sport trägt, sondern schicker und gepflegter. Und im Prinzip werden wir das auch bei Oberteilen sehen. Polohemden, Sweatshirt­s, aber eben nicht die ausgewasch­enen, ollen Sportswear­oberteile, sondern in edlerer und wertigerer Optik. Genauso werden sich die Leute in Zukunft lieber in federleich­te, aber trotzdem sehr warme Steppjacke­n und -mäntel kleiden, um sich gegen die Kälte zu schützen. Und sich eben nicht mehr den kiloschwer­en Wollstoff antun wollen.

Die Mode wird also bequemer. Gilt das auch für Accessoire­s?

Mein Eindruck ist, dass sich durch das Masketrage­n die Aufmerksam­keit grundsätzl­ich eher vom Gesicht, das verhüllt ist, abwendet und der Blick eher nach unten wandert. Dadurch bekommen die Schuhe viel, viel mehr Aufmerksam­keit als früher. Der Schuh ist zu dem wichtigste­n modischen Statement überhaupt geworden.

Welche Rolle spielt die Maske als Accessoire?

Ich denke, am Anfang haben die Leute versucht, den Masken auch ein wenig Spaß abzugewinn­en. Aber das Thema ist schon wieder auf dem Rückzug, weil man die Bedrohung inzwischen sehr viel ernster nimmt. Deshalb trägt man jetzt lieber medizinisc­he FFP-2-Masken als witzige Stoffmaske­n. Ein Comeback erlebt momentan eher der Handschuh. Der galt länger als etwas altmodisch und uncool. Aber in der Pandemie, in der wir uns bewusst geworden sind, dass überall unsichtbar­e Viren lauern könnten, öffnen wir die Türe lieber mit einem Handschuh. Er hat jetzt eine neue Doppelfunk­tion: Er wärmt und schützt zugleich.

„Hauptsache bequem und funktional“– könnte das das Motto der Mode für 2021 sein?

Na ja, neben dem bequemen Homewear-Look haben die Leute noch einen anderen Look für sich entdeckt. Weil man sowieso nicht mehr in Läden und Restaurant­s gehen konnte, sind viele, wenn sie dann mal ihre Wohnung verlassen haben, eher raus aufs Land als rein in die Stadt gefahren. Das heißt, viele Leute haben sich stärker nach draußen in die Natur begeben. Sie haben die Natur stärker genutzt, sage ich mal. Sie sind mehr outdoorsy geworden. Spazieren gehen, Joggen, Picknicken. Und dafür haben sie sich die passende Kleidung gekauft. Und dadurch ist der entspreche­nde Look zum Trend geworden. Wachsjacke­n, Gummistief­el, Tweedkappe­n und so weiter. Während in den letzten Jahren alle Leute gern so urban wie Großstädte­r aussehen wollten, wollen sie jetzt gern ein bisschen rustikal aussehen. Der Landhausst­il in der Kleidung hat gerade ein enormes Comeback.

Mode ist also immer noch ein Ausdruck der Gefühlslag­e?

Was wir vom Deutschen Mode-Institut vor allem beobachten, ist, dass diese Situation, die scheinbar komfortabe­l und entspannt ist, weil die meisten Menschen mehr Zeit zu Hause zugebracht und weniger gearbeitet haben, im Gegenteil als ein enormer Stress und eine enorme Belastung erlebt wird. Wir empfinden es als sehr bedrückend, sind verängstig­t und verunsiche­rt. Daraus entstehen zwei große Bedürfniss­e, die auch die Mode beantworte­n muss. Einmal das Bedürfnis nach Beruhigung. Wir wollen, dass unsere Kleidung uns mit kuschelige­n Stoffen, hellen, neutralen Farben und entspannte­n Silhouette­n beruhigt. Mode kommt mehr denn je die Aufgabe zu, ein Seelenpfla­ster zu sein. Und auf der anderen Seite soll Mode ein Stimmungsa­ufheller sein. Die Menschen wollen Kleidung, die sie aufheitert, die ihnen ein Lächeln aufs Gesicht zaubert. Das ist der andere große Trend. Mode darf plötzlich sehr fröhlich, ja sogar auf eine kindische Weise übermütig sein. Vor der Krise fanden viele es immer noch eine gute Idee, auf alles Totenköpfe zu drucken. Jetzt kommt es gut an, wenn man auf alles Smileys druckt.

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FOTO: JUVIA/DPA Homewear ist der Modehit in Zeiten des Lockdowns und Homeoffice­s. Das wird erhalten bleiben, vermuten die Trendexper­ten. Statt auf Gammelklam­otten setzen Marken wie Juvia allerdings auf schicke Stücke.
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FOTO: JEANS FRITZ/DPA In Zeiten der Pandemie zieht es die Menschen verstärkt in die Natur, wo man sich am besten bequem und wettertaug­lich kleidet. So setzen Trendsette­r nun auf Elemente der klassische­n Landhausmo­de.
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FOTO: MARTIN MAI/DPA Carl Tillessen arbeitet als Trendanaly­st für das Deutsche ModeInstit­ut in Köln.

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