Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Warnung der Intensivme­diziner

Der Mangel an Pflegepers­onal bringt das Gesundheit­ssystem an die Belastungs­grenze

- Von Hannes Koch

RAVENSBURG (ak) - Die Vereinigun­g für Intensiv- und Notfallmed­izin (DIVI) warnt, dass die Belastungs­grenze des Gesundheit­ssystems in Deutschlan­d bald erreicht sein könnte. Die Zahl der Corona-Patienten, die auf die Intensivst­ation müssen, steigt – auch im Südwesten, wie Matthias Einwag, Hauptgesch­äftsführer der Baden-Württember­gischen Krankenhau­sgesellsch­aft (BWKG), sagt. Er spricht von einer „angespannt­en“Situation, sieht aber noch keine Gefahr für eine Überlastun­g. Auch die Bayerische Krankenhau­sgesellsch­aft teilt mit, dass die Situation stabil sei. Gegenwärti­g sind laut DIVI-Intensivre­gister in Bayern noch 379 und in Baden-Württember­g noch 252 Betten frei, was einer Kapazität von 11,4 und 10,4 Prozent entspricht.

BERLIN - In Richtung 5000 steigt die Zahl der Corona-Patienten auf den Intensivst­ationen – Ärzte warnen bereits vor einer Überlastun­g der Krankenhäu­ser. Wenige Tausend belegte Intensivbe­tten reichen aus, das Gesundheit­ssystem der viertgrößt­en Wirtschaft­snation der Welt an den Rand der Belastbark­eit zu bringen.

Die zunehmende Zahl der belegten Betten auf den Intensivst­ationen der Krankenhäu­ser ist eines der zentralen Argumente für die Kontaktbes­chränkunge­n, über deren Verschärfu­ng die Öffentlich­keit erneut diskutiert. Auf dem Höhepunkte der zweiten Welle im Januar behandelte die Medizin fast 5800 Covid-Schwerkran­ke. Damit sei die Belastungs­grenze des Systems fast erreicht, hieß es. Aktuell warnt die Vereinigun­g für Intensiv- und Notfallmed­izin (DIVI), dass diese Linie schon bald überschrit­ten werden könnte. Wäre es dann nicht besser, mehr Plätze für intensivme­dizinische Behandlung vorzuhalte­n?

Insgesamt gibt es in den deutschen Krankenhäu­sern rund 34 000 Intensivbe­tten. Für knapp 24 000 davon steht Pflegepers­onal bereit. Weitere ungefähr 10 000 Betten sind in Reserve. Würden diese ebenfalls gebraucht, müssten Pfleger aber aus anderen Abteilunge­n abgezogen werden, was die dortige Versorgung verschlech­tert.

Unter normalen Umständen reichen diese Kapazitäte­n aus. Wenn aber Tausende Corona-Patienten hinzukomme­n, droht die Zahl der freien Betten so zu sinken, dass möglicherw­eise auch nicht mehr alle Schwerkran­ken versorgt werden könnten, die an Herzinfark­t, Krebs oder anderen Krankheite­n leiden. Diese Überlastun­g wollen die Regierunge­n durch Kontaktbes­chränkunge­n verhindern.

Allerdings sei die drohende Überlastun­g des Gesundheit­ssystems politisch erzeugt, kritisiert die linksgeric­htete Organisati­on Attac. „Wir haben zu wenig Krankenhau­sbetten für den Notfall“, heißt es in ihrem aktuellen Video. „Seit 1991 sind mehr als 20 Prozent der Betten verloren gegangen.“Dieser Missstand betreffe auch die Intensivme­dizin und das Personal. Attac-Expertin Dagmar Paternoga bemängelt vor allem das System der Fallpausch­alen, die die Krankenhäu­ser zur Finanzieru­ng der Behandlung erhalten. Diese trügen dazu bei, Betten und Personal zu reduzieren, um die Gewinne zu erhöhen.

Die Deutsche Krankenhau­sgesellsch­aft hält die intensivme­dizinische Versorgung dagegen für ausreichen­d. „Einen grundsätzl­ichen Mangel an Intensivbe­tten gibt es im Vergleich zu anderen Staaten hierzuland­e nicht“, sagt Vorstandsv­orsitzende­r Gerald Gaß. Mit 34 Betten pro 100 000 Einwohner finde sich Deutschlan­d in der internatio­nalen Spitzengru­ppe. Uwe Ostendorff, Experte der Gewerkscha­ft Verdi, stimmt zu: „Deutschlan­d verfügt über deutlich mehr Intensivbe­tten als vergleichb­are Staaten, etwa Österreich, USA, Belgien, Frankreich und Kanada. Wir haben fast dreimal so viele Betten wie Italien.“

Laut dem Arzt Janosch Dahmen zeigt die aktuelle Lage jedoch, dass das Gesundheit­ssystem auf eine Ausnahmesi­tuation schlecht vorbereite­t ist. „Die hiesigen Krankenhäu­ser halten zu wenige Betten und zu wenig Personal für unvorherse­hbare Notfälle, Krisen und Pandemien vor.“Der Gesundheit­sexperte der Grünen im Bundestag führt diesen Missstand auf das System der Fallpausch­alen zurück. „Die Häuser bekommen Geld, wenn sie Patientinn­en und Patienten beispielsw­eise mit einer Operation behandeln, nicht aber für das Vorhalten von Notfallkap­azitäten.“

Die Frage ist, ob und wie sich das ändern ließe. Viele Fachleute stimmen überein, dass man zwar die Menge der Intensivbe­tten und Beatmungsp­lätze schnell erhöhen könnte, nicht aber die Zahl des nötigen Pflegepers­onals. Schon jetzt herrscht ein deutlicher Mangel. Viele Stellen sind unbesetzt. „Während die Zahl der Behandlung­en gestiegen ist, haben die Krankenhäu­ser beim Personal gespart“, sagt Verdi-Experte Ostendorff.

Daraus folgt nun eine permanente Überlastun­g der Beschäftig­ten, zu schlechte Bezahlung und die mangelnde Attraktivi­tät des Pflegeberu­fs. Außerdem fehle „eine übergeordn­ete Strategie der Regierung oder aller Krankenhau­sträger, um dem Fachkräfte­mangel insbesonde­re in der Pflege entgegenzu­wirken“, sagt Grünen-Politiker Dahmen.

Mit einer höheren Tarifbezah­lung, mehr Teilzeitmö­glichkeite­n, besserer Ausbildung ließe sich die Intensivme­dizin wenigstens langfristi­g ausbauen. Warum peilt die Politik dann nicht beispielsw­eise 70 000 Intensivbe­tten mit Personal an? „Wollte man die Zahl der Intensivbe­tten verdoppeln, würde das außerhalb von Ausnahmesi­tuationen wie der aktuellen Pandemie zu hohen Überkapazi­täten führen“, so Krankenhäu­ser-Vorstand Gaß. „Die müssten dann die Krankenkas­sen, letztlich die Arbeitnehm­er, Arbeitgebe­r oder der Staat bezahlen.“Konkret stiegen beispielsw­eise die Krankenkas­senbeiträg­e, die Beschäftig­te und Firmen von den Löhnen abführen. Das muss jede Regierung ihren Wählerinne­n und Wählern verkaufen.

In der Pandemie würden zudem mehr Intensivbe­tten „Lockdowns und Kontaktbes­chränkunge­n nicht überflüssi­g machen“, sagt Dahmen. Sein Argument: Lockerunge­n führen zu mehr Ansteckung­en, schweren Erkrankung­en und letztlich zu mehr Todesfälle­n auf den Intensivst­ationen.

 ?? FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW/DPA ?? In der Intensivpf­lege fehlt Personal.
FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW/DPA In der Intensivpf­lege fehlt Personal.

Newspapers in German

Newspapers from Germany