Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Der hemmungslose Eindringling
Die Bekämpfung der Quagga-Muschel im Bodensee kostet Wasserversorger Millionen Euro
SIPPLINGEN/HARD - Als jüngst am Bodensee die „Hohentwiel“, der letzte Schaufelraddampfer, nach der mehrmonatigen Winterpause in die Werft ins Schweizer Romanshorn geschleppt und vorsichtig zur Generalrevision ausgewassert worden war, gab es unterschiedliche Reaktionen. Die einen, die die 300 Tonnen schwere und 108 Jahre alte „Dame“noch nie in voller Größe gesehen haben, staunten, nickten bestätigend, als jemand von „großer Ingenieurskunst“und von „einem wunderschönen Schiff“sprach. Die anderen, die die 57 Meter lange und 13 Meter breite „Hohentwiel“kannten, schüttelten beim Anblick des Rumpfes ungläubig den Kopf. Kreuz und quer war eine Fläche von rund 200 Quadratmetern, wie Oberkapitän Robert Kössler schätzte, mit Quagga-Muscheln besetzt – das sind bis zu 40 Millimeter große, braun gestreifte Weichtiere. Nur mit Mühe schaffte es „Hohentwiel“Liebhaber Kössler, mit seinem Meterstab auf den Grund des Stahlrumpfes vorzudringen, um die Besatzdicke zu messen. „Sieben Zentimeter! Ich kann es nicht glauben“, stellte der Mann fest, der seit 30 Jahren auf der „Hohentwiel“Dienst tut. „Das muss alles weg. Da muss man mit Hochdruckreinigern ran.“Als die „Hohentwiel“2010 das letzte Mal auf der Werft war, hatten sich nur ein paar Dreikant-Muscheln darauf befunden.
Nicht nur am Bootsrumpf der „Hohentwiel“sieht man die Quagga-Muschel nicht gern. Bei der Bodensee-Wasserversorgung (BWV) in Sipplingen stöhnt Pressesprecherin Maria Quignon bei der Frage nach dem Weichtier und sagt: „Das ist ein bissle die Pest.“Auch bei der BWV macht sich die Muschel ungehemmt breit. Einen Innendurchmesser von 1,30 Meter hat deren Leitung in den See, die etwa 9000 Liter pro Sekunde fördern kann. ,„Wenn wir nichts gegen die Muschel tun, können wir irgendwann weniger Wasser transportieren“, sagt Quignon. Also heißt es putzen. Vier Mitarbeiter verdanken der Quagga-Muschel ihre relativ neuen Arbeitsstellen. Sie steuern selbstfahrende Reinigungsgeräte, die an Seilen gesichert sind, sogenannte Molche, durch die Anlagen. Und versuchen, mithilfe eines Wasserstrahls und einer Bürste die Muscheln von Hand wegzuschrubben. Eine schöne Arbeit, räumt Maria Quignon ein, sei das nicht. „Wir müssen abwägen, womit wir den Muscheln zu Leibe rücken. Auf jeden Fall müssen wir aufpassen, dass unsere Betonrohre nicht leiden, nicht poröser werden.“Ohnedies könnten die Rohre nicht ständig gereinigt werden. Denn währenddessen stoppt die Wasserentnahme aus dem See. „Wir müssen vier Millionen Menschen mit Trinkwasser versorgen“, sagt die Pressesprecherin. Bisher stand einmal im Jahr die Reinigung der riesigen unterirdischen Wasserkammern der BWV an. Mittlerweile ist das alle drei Monate nötig.
5,8 Millionen Euro hat die BWV bisher im Kampf gegen die QuaggaMuschel ausgegeben.
2016 wurde das Weichtier erstmals im Bodensee nachgewiesen. Die Muschel ist eigentlich im Aralsee und im Schwarzmeerraum zu Hause. Wie sie ins Schwäbische Meer gelangte, ist nicht mehr nachvollziehbar. Wurden Boote nicht richtig gereinigt, bevor sie im Bodensee eingesetzt wurden? Waren es Wassersport- oder Angelausrüstungen, über die die Quagga-Muschel in den See gelangt ist? Sicher ist nur: Die Quagga-Muschel verbreitet sich derart rasant, dass sie sogar die Dreikantmuschel, die sich seit den 1960er-Jahren im See tummelt, verdrängt und sich mittlerweile im gesamten Bodensee ausgebreitet hat. Beide Muscheln vermehren sich mit sogenannten Veliger-Larven, wie Thorsten Rennebarth vom Institut für Seenforschung in Langenargen erklärt. „Diese sind klein – je nach Entwicklung etwa 0,1 Millimeter – und schwimmen frei im Wasser, womit sie sich sehr effizient im Gewässer verteilen und auch leider sehr leicht verschleppt werden.“Während die Dreikantmuschel nur im Sommer Larven bildet, ist die Quagga-Muschel das ganze Jahr über aktiv und vermehrt sich damit deutlich schneller. Und: Während die Dreikantmuschel laut Angaben von Rennebarth eine feste Unterlage braucht, um sich ansiedeln zu können, ist die QuaggaMuschel in der Lage, auch weiches Sediment zu besiedeln – und das in einer Wassertiefe von bis zu 180 Metern. Dabei hält sie sich mithilfe von sogenannten Byssusfäden fest. „Diese Fäden sind relativ haltbar und bleiben auch bestehen, wenn die Muscheln schon lange ausgetrocknet und abgestorben sind“, erklärt Rennebarth. Es sei anzunehmen, dass die Fäden durch Verwitterung und biologischen Abbau auch irgendwann nachgeben und die Muscheln dann beispielsweise von einem ausgewasserten Schiffsrumpf abfallen. „Aber das ist eher ein langsamer Prozess.“
Die Muscheln pumpen Wasser durch ihre in der Schale liegenden Kiemen und filtern dabei Partikel aus dem Wasser. Verdauliches wie Phytoplankton, also frei im Wasser schwebende Algen und tierische Kleinstlebewesen, werden in den Verdauungsapparat transportiert, nicht Fressbares wird ausgeschieden.
Allerdings gibt es auch noch Fragen zu dem Neuankömmling: So ist bisher unbekannt, wie viele Nachkommen eine Quagga-Muschel produzieren kann. Auch liegen beispielsweise keine Erkenntnisse vor, unter welchen Bedingungen die Muscheln einen Schiffsrumpf besiedeln oder was ein Besiedeln fördert beziehungsweise hemmt. Ein direkter Einfluss des Klimawandels auf die Vermehrung der Muscheln ist den Forschern indes nicht bekannt.
„Keiner weiß bis jetzt, was für Auswirkungen die Quagga-Muschel auf den Bodensee bringen wird“, sagt Elke Dilger, Vorsitzende desVerbands Badischer Berufsfischer am Bodensee. Sie beklagt das „explosionsartige Verbreiten“, das den Berufsfischern Sorge bereite. „Die Fischerei beeinflusst die Muschel derzeit, indem sie sich in den Netzen verfängt und somit die Netze beschädigt.“Sie müssten rascher als sonst durch neue Netze ersetzt werden. „Das sind zusätzliche Kosten“, stellt Dilger fest. „Zudem bringen die Muscheln mehr Arbeitsaufwand, weil sie aus dem Netz entfernt werden müssen.“
Wäre Teil einer Lösung, die Muscheln gezielt für die hochwertige Gastronomie zu fangen beziehungsweise zu „ernten“? Markus Philippi, Sternekoch im Casala in Meersburg, nimmt sich Zeit für die Anfrage. Zu diesem Zeitpunkt hat Philippi, der seit 2008 am Bodensee arbeitet und sich sehr gut mit Muscheln auskennt, zwar noch keinem Gast Quagga-Muscheln serviert. In seiner Zeit an der Algarve in Portugal hat der Spitzenkoch für seine Gäste aber beispielsweise Entenmuscheln zubereitet. Hierzulande seien Entenmuscheln fast nicht zu bekommen und „höllisch teuer“. Philippi verspricht, sich intensiv mit der Quagga-Muschel zu beschäftigen. Das tut er übers Wochenende. Dann winkt er aber ab, auch wenn er gelesen hat, dass Angler vereinzelt die Muschel gegessen haben und es ihnen gut gehe. „Für die Gastronomie ist die Quagga-Muschel uninteressant. Sie hat eine zu geringe Ausbeute. Ich würde die Muschel nicht unbedingt den Gästen anbieten.“Sorge macht dem Sternekoch, dass der Eindringling Plankton frisst – das auch auf dem Speisezettel der Felchen steht. „Schon jetzt ist das Felchenvorkommen im See nicht mehr wie vor zehn Jahren“, klagt Philippi.
Auch wenn die Quagga-Muschel für die Beschaffenheit und Qualität des Trinkwassers kein Problem darstellt, wie Maria Quignon versichert, ist bei der Bodensee-Wasserversorgung nach relativ kurzer Quagga-Muschel-Zeit klar: Der neue Seebewohner muss, wo immer es geht, in Schach gehalten werden. Mit Investitionen in Höhe eines „mittleren dreistelligen Millionenbetrags“rechnet die BWV für drei neue Wasserwerke: zwei am Standort Sipplingen-Süßenmühle und ein Werk am Standort Pfaffental zwischen Sipplingen und Ludwigshafen. „Baubeginn soll 2025 mit dem vollständig neuen Wasserwerk Pfaffental sein. Das erlaubt es uns, die Wasserversorgung durch die bestehenden Anlagen am Standort Sipplingen-Süßenmühle ohne Einschränkungen aufrecht zu erhalten“, erklärt Pressesprecherin Maria Quignon. Schon jetzt wisse man, dass es „nach Inbetriebnahme der neuen Wasserwerke noch einige Zeit dauern wird, bis alle Muscheln aus den technischen Anlagen entfernt sind“, sagt Quignon. Nach wie vor werde Ozon eingesetzt, das die Larven der Quagga-Muschel vernichte. „Daher können sich im Bereich der Ozonanlage keine Muscheln ausbilden und demzufolge auch nicht anhaften.“In den SeeEntnahmeleitungen aller Wasserwerke allerdings würden sich weiterhin Muscheln ansiedeln. „Daher brauchen wir Leitungen, die gereinigt, also gemolcht werden können. Direkt nach der Entnahme wird das Seewasser durch die Ultrafiltrationsanlage geleitet, die alle Partikel größer 20 Nanometer – das sind 0,00002 Millimeter – aus dem Wasser entfernt und damit auch die Larven der Quagga-Muschel. So werden keine Larven mehr in das Wasserwerk Sipplinger Berg geschleppt“, so Maria Quignon. Zehn Jahre soll es dauern, bis die neuen Wasserwerke fertig sind.
Drei bis fünf Jahre alt könne eine Quagga-Muschel werden, heißt es bei den Wissenschaftlern. „Ganz prinzipiell ist es mit Neobiota – also Tier- und Pflanzenarten, die nicht heimisch sind und eingeschleppt wurden – oftmals so, dass diese Arten sich erst mal scheinbar ungebremst ausbreiten“, sagt Forscher Rennebarth. „Ein Grund dafür ist, dass meistens mit den Arten die dazugehörenden mehr oder weniger spezialisierten Pathogene (Krankheitserreger, d. Red.) nicht mit eingeschleppt werden.“Zudem erkennen heimische Arten die neuen Arten oft nicht als Futterquelle, und so fallen zwei wichtige ökologische Regelmechanismen erst einmal aus. Natürliche Fressfeinde der Quagga-Muscheln anzusiedeln, scheide auch aus, weil man wisse, „dass diese Fressfeinde auch der heimischen Tierwelt stark zusetzen würden, was im Hinblick auf die Fischerei katastrophal wäre“. Kämen später die entsprechenden Pathogene hinzu und/oder würden die Neobiota als Nahrungsquelle entdeckt, „können die Populationen auch teilweise wieder zusammenbrechen oder sich auf niedrigerem Niveau einpendeln“, sagt Rennebarth. Das wäre ein Silberstreifen am Horizont. „Es gibt mündliche Mitteilungen an uns, dass Fische vereinzelt auch Quagga-Muscheln gefressen haben – sie wurden im Mageninhalt gefunden“, berichtet der Forscher. Das wäre ein weiterer Silberstreifen. „Denn wenn Trüsche und Barsch in Zukunft auf den Geschmack kämen“, meint Rennebarth, „wäre das für den See und auch die Fischer respektive die Fischgenießer sicher ein Gewinn.“
Doch zurück zum Schaufelraddampfer. „Es ist in der Tat so, dass durch Muschelbesatz am Unterwasserschiff durch Reibungsverlust eine erhebliche Geschwindigkeitsreduzierung stattfindet“, sagt Reinhard E. Kloser, Sachverständiger für Schifffahrt und Seniorkapitän des letzten Schaufelraddampfers auf dem Bodensee. Vor seiner „Hohentwiel“-Zeit war Kloser auf den Weltmeeren unterwegs. „Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass wir in der Regel auf der letzten Fahrt von Südamerika kommend vor dem Werftaufenthalt bei gleicher Maschinenleistung etwa zehn Prozent weniger Fahrt machten, von 22 Seemeilen auf nur noch 20 Seemeilen. Wir mussten alle zwei Jahre mit unserem Schiff ins Trockendock zur Unterwasserreinigung. Jedes Mal war ein neuer Farbaufbau fällig.“Auf die „Hohentwiel“bezogen, deren zwei Schaufelräder einen Durchmesser von jeweils 4,17 Meter haben, würde der Muschelbesatz nach Schätzung von Kapitän Florian Pausch pro Radumdrehung einen bis eineinhalb Meter weniger Strecke bedeuten – bei rund 100 000 Umdrehungen pro Saison. Damit einher ginge ein erhöhter Treibstoffverbrauch.
Glück für die „Hohentwiel“, dass sie nach ihrer „Frühjahrskur“auf der Werft jungfräulich wie 1913 bei ihrem ersten Stapellauf in die neue Saison starten kann: Innerhalb einer Woche wurde die „Grande Dame des Bodensees“, die einst für den württembergischen König gebaut wurde, abgespeckt: Sie wurde, teils mithilfe von Spaten, von rund 3000 Kilogramm Muscheln befreit und schafft jetzt wieder wie in früheren Zeiten 8,65 Meter pro Schaufelradumdrehung.